Der Stein im Hof des Julianums in der Kapuzinerstraße ist zwar mächtig, sieht aber unscheinbar aus – zumal er sich inmitten des Fahrradparkplatzes befindet und daher leicht übersehen wird. Wenn er aber nicht gerade von Drahteseln zugeparkt ist und man ihm etwas Aufmerksamkeit schenkt, merkt man, dass es sich um keinen gewöhnlichen Stein handelt. Er ist, wie seine geschwungene Form vermuten lässt, offenbar behauen – und wenn man ihn ganz genau in Augenschein nimmt, kann man sogar entdecken, dass seine Oberfläche von einer Art steinerner Fischschuppen überzogen ist.
Wolfgang Keller, Autor bei WürzburgWiki, weiß, warum: „Das ist der letzte Rest eines großartigen Brunnens, den Johann Georg Wolfgang van der Auwera 1740 geschaffen hat.“ 200 Jahre lang, bis 1945, bildete das Wasserspiel im Gerhard’schen Hof, dem heutigen Julianum, den gestalterischen Höhepunkt der ursprünglich barocken Gartenanlage. Der Brunnen stand aber nicht dort, wo der Stein heute liegt, sondern auf der anderen Seite in der Gartenanlage.
Die Gestalt des früheren Brunnens ist gut recherchiert
„Die war zur einen Hälfte als geometrisch durchgeformtes Gartenparterre und zur anderen als Lustwäldchen gestaltet“, sagt der Würzburger. „Das Gartenparterre war rechteckig und streng barock. Es wurde von einem Wegkreuz durchzogen, in dessen Mittelpunkt ein quergelagertes Wasserbassin eingelassen war.“ Da fügte sich der Auwera-Brunnen gut ein. Keller hat anhand alter Bilder ganz genau recherchiert, wie der Brunnen aussah: „Im Mittelpunkt stand der griechische Sänger Arion in Siegerpose auf dem wuchtigen Kopf eines Delfins. Die lange Schwanzflosse des Fischs ringelte sich im Hintergrund nach oben bis auf Kopfhöhe des Sängers.“

Der Würzburger weiß, dass das noch nicht alles an Figurenschmuck war: „Ausgeschmückt war die Anlage durch seitliche Rokokopilaster mit vorgesetzten Büsten und bekrönenden Ziervasen. Die Mauernische wurde oben durch eine bärtige Büste abgeschlossen. Zudem befanden sich im oberen Bereich der Mauer wohl zunächst zwei Putten, die dem Sänger Pfeil und Bogen und einen Lorbeerkranz darboten.“ Arion selbst habe wohl eine Lyra in seiner emporgereckten Hand getragen. „Und das Wasser spie der Delfin aus seinen beiden Nasenlöchern.“
Nach dem Luftangriff vom 16. März 1945 verschwand auch der Torso der Brunnenfigur
Ebenjener Delfin, dessen Schwanzflosse das Einzige ist, was noch an den Brunnen erinnert. Denn wie so vieles wurde auch der Brunnen am 16. März 1945 zerstört. Arion überstand den Bombenangriff als Torso. „Aber der ist nach dem Krieg verschwunden“, sagt Keller, „über Nacht, ganz plötzlich. Man weiß nichts über seinen Verbleib.“ Wie das allerdings vonstattengegangen sein soll, kann er sich nicht erklären. „Das war ja ein Riesentrumm und auch ziemlich schwer, den konnte man nicht einfach so davontragen.“ Und deshalb fristet die Schwanzflosse des steinernen Delfins nun ganz einsam und verlassen ihr Dasein – inmitten von Fahrrädern. Welch trauriges Ende eines prachtvollen Brunnens! Aber wie gut, dass es Menschen wie Wolfgang Keller gibt, die Relikte wie diese Schwanzflosse ausfindig machen und ihre Geschichte dem Vergessen entreißen.
Wer eine Weile vor dieser Schwanzflosse steht, wenn die Sonne scheint, und dann vielleicht sogar vom Hausherrn die Erlaubnis bekommt, einen Blick in den Garten zu werfen, der könnte fast meinen, den prächtigen Brunnen im noch prächtigeren Garten vor sich zu sehen und das Wasser plätschern zu hören: aus beiden Nasenlöchern des Delfins, von dem vor dem inneren Auge so viel mehr übrig geblieben ist als nur eine Schwanzflosse.
Text: Eva-Maria Bast
Der Text stammt aus dem Buch „Würzburger Geheimnisse - Band 2“ von Eva-Maria Bast, das in Kooperation mit der Main-Post entstand und soeben erschienen ist. Das Buch enthält 50 Geschichten zu historischen Geschehnissen und Orten. Präsentiert werden die Begebenheiten jeweils von Würzburger Bürgern.