Christoph Reiners verabschiedet sich? Nun – der Ärztliche Direktor des Universitätsklinikums Würzburg übergibt an diesem Freitag sein Amt, das er 15 Jahre ausgeübt hat, an seinen Nachfolger: an den Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik I, Professor Georg Ertl. Ganz ins Privatleben zurück zieht sich der 69-Jährige jedoch keineswegs. Schon allein deshalb nicht, weil Ehefrau Regine ansonsten fürchten müsste, dass er sein gewohntes Pensum an Aufgaben dann ausschließlich im häuslichen Bereich weiterführt, erzählt Christoph Reiners mit einem Augenzwinkern. Die Angst ist unbegründet. Dazu kommt es nicht.
Professor Christoph Reiners ist ein international bekannter und vernetzter Nuklearmediziner und Strahlenschutzexperte (siehe Infobox). Und er wird sich auch künftig seinen wissenschaftlichen Schwerpunkten widmen – als Seniorprofessor „mit einem Arbeitspensum von rund 20 Prozent der üblichen Jahresarbeitszeit“. Das entspricht einem Tag in der Woche.
Auch an den restlichen Tagen der Woche wird es Christoph Reiners, der am 28. Januar seinen 70. Geburtstag feiert, kaum langweilig werden. Er leitet weiterhin das in Würzburg angesiedelte nationale Kollaborationszentrum für medizinische Vorsorge und Hilfe bei Strahlenunfällen innerhalb des internationalen REMPAN (Radiation Emergency Medical Preparedness and Assistance Network) Netzwerks der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Oder er unterstützt als Vorsitzender des Hochschulrats der Würzburger Musikhochschule die Hochschulleitung in organisatorischen oder wirtschaftlichen Fragen.
Darüber hinaus widmet er sich seinem Steckenpferd – der Medizininformatik. Bereits als Student habe er sich sehr dafür interessiert. „Nun schließt sich der Kreis“, sagt Reiners, denn nun bringt er die Digitalisierung im bayerischen Gesundheitswesen weiter voran – als Berater der Staatsregierung, wobei mehrere Millionen Euro für die Plattform Gesundheit/Medizin innerhalb des neuen Zentrums Digitalisierung.Bayern (ZD.B) vorgesehen sind. „Das ist ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt“, so Reiners. Denn durch die elektronische Datenverarbeitung könnten zum Beispiel medizinische Abläufe und Prozesse besser strukturiert und damit die Patientensicherheit erhöht und Ärzte sowie Pflegekräfte von Dokumentationsaufgaben entlastet werden.
Um Menschen zu helfen, ist Christoph Reiners ja schließlich Arzt geworden. So ist seine Verabschiedung für ihn auch Anlass, ein wenig zurückzublicken.
Erinnerungen an den kleinen Pavel
An einen Patienten erinnert er sich ganz besonders: an Pavel. Trotz der vielen internationalen Kontakte sowie regionalen und überregionalen Aufgabengebiete hat er bis heute noch sehr genau ein Bild vor Augen: an eine Begegnung, die seinen weiteren Werdegang entscheidend beeinflusst hat.
Sie fand an einem Herbstabend 1991 vor der Klinik für Nuklearmedizin in Essen statt. Reiners wollte gerade nach Hause gehen, als eine Frau auf ihn zukam. An der Hand hielt sie einen etwa sechsjährigen Jungen, ihren Sohn. „Er war blass, man sah ihm an, dass er sehr krank war“, erinnert sich Reiners. Sie kamen aus Weißrussland, aus Gomel. Die Region, nordöstlich vom ukrainischen Tschernobyl gelegen, gehört zu den am stärksten kontaminierten Gebieten.
Pavel, der kurz vor dem Reaktorunglück von 1986 geboren wurde, hatte Schilddrüsenkrebs. Als die Ärzte der Mutter den nahen Tod ihres Sohnes prognostiziert hatten, machte sie sich – wegen des Namens – auf den Weg zum Westdeutschen Tumorzentrum des Uniklinikums Essen. Und dort lief sie zufällig Christoph Reiners in die Hände. „Pavel wurde mein erster Patient mit kindlichem Schilddrüsenkrebs, dessen Ursache Strahlung ist. Seit Tschernobyl weiß man, dass es da einen Zusammenhang gibt“, so Reiners. Doch damals hatte er die erste Gelegenheit, ein betroffenes Kind zu untersuchen. Im Lauf der Zeit kümmerte er sich zusammen mit seinem Oberarzt Dr. Johannes Biko nicht nur um Pavel, sondern um rund 1600 Kinder aus Weißrussland. Besonders schwer Erkrankte, es waren etwa 250, kamen zur Behandlung mit einer Radiojodtherapie nach Deutschland und ab 1994 nach Würzburg, als Reiners das Ruhrgebiet wieder in Richtung Franken verließ und Direktor der Klinik für Nuklearmedizin des Uniklinikums wurde.
Nachsorge der „Tschernobyl-Kinder“
Auf diesem Gebiet bleibt Reiners nicht nur Koordinator, sondern vor allem weiterhin als Forscher tätig. Ein neues Projekt des Umweltministeriums stellt zum einen die intensive Nachsorge der einstigen „Tschernobyl-Kinder“ in den Mittelpunkt, die heute mindestens 30 Jahre alt sind und Familien gegründet und selbst inzwischen über 120 glücklicherweise gesunde Kinder haben, so Reiners.
Ziel des Projekts ist es weiterhin abzuklären, welche Risiken nach einer Radiojodbehandlung für Zweiterkrankungen wie Brustkrebs bestehen. „Dazu gibt es in der Fachliteratur widersprüchliche Angaben.“ Christoph Reiners, seine Würzburger Kollegin Dr. Rita Schneider und die Ärzte und Wissenschaftler von der weißrussisch-deutschen Stiftung „Arnica“ in Minsk, mit denen er seit vielen Jahren zusammenarbeitet, sammeln nicht nur die Daten dieser Patienten, sondern weltweit von rund 8000 jungen Frauen, die wegen Schilddrüsenkrebs eine Radiojodbehandlung erhalten haben.
Wenn Christoph Reiners dann noch Zeit bleibt, möchte er ein sehr persönliches Projekt starten und sich auf die Spuren seines Großvaters begeben. „Er war Ingenieur bei der Niederländisch-Ostindischen-Handelskompanie.“ Da er früh gestorben ist, hat Reines ihn nicht mehr kennengelernt. Was er aber über dessen Leben weiß, hat seine Neugierde geweckt. „Um 1920 war mein Großvater maßgeblich am Bau der Eisenbahn auf der indonesischen Insel Sulawesi beteiligt; früher hieß sie Celebes“, erzählt der stolze Enkel, der nahe der holländischen Grenze aufgewachsen ist. Fotografien seines Großvaters faszinieren ihn bis heute. „Damals gab es keine Baumaschinen. Dressierte Elefanten haben die Arbeiten übernommen und zum Beispiel die Schienen verlegt.“ Leider seien viele Familiendokumente im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen. Nun will Christoph Reiners in Holland im Archiv der Handelskompanie Originalunterlagen des Eisenbahnbaus einsehen.
Verbindungen nach Nagasaki
Auch für den Würzburger Arzt Franz von Siebold hegt Reiners ein großes Interesse. Nicht nur weil er etwa 100 Jahre vor seinem Großvater in der Niederländisch-Ostindischen Handelskompanie – als Delegationsarzt in Nagasaki – tätig war. „Er war ein Universalgenie, nicht nur Mediziner, sondern auch Ethnologe und Naturforscher.“ Er habe die westliche Medizin mit zum Beispiel der segensreichen Pockenimpfung in Japan eingeführt, das bis dato nur die traditionelle chinesische Medizin kannte, so Reiners. Und ohne Siebold wäre es wohl nicht zu der engen Verbindung der Städte Würzburg und Nagasaki gekommen. An diesem Punkt könnte Christoph Reiners wieder viele Geschichten aus seinem beruflichen Leben erzählen – an die ersten Kontakte zu Nagasaki nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl, an die Partnerschaft der beiden Universitäten, an den Studentenaustausch, den er viele Jahre koordiniert hat, an laufende glücklicherweise günstig verlaufende Nachuntersuchungen bei den vom Reaktorunfall in Fukushima Betroffenen . . .
Und es werden aufgrund der vielen Pläne und Projekte neue Geschichten hinzukommen. Denn in den Ruhestand verabschiedet er sich nicht. „Ich will lieber mit Menschen zusammenarbeiten und forschen.“ Eine kleine Auszeit gönnt er sich jedoch: „Ab 18. Dezember bin ich erst mal weg.“ Wohin verrät er nicht. Vielleicht begibt er sich auf eine Reise über die Seidenstraße – noch ein Projekt, das Christoph Reiners verwirklichen möchte. Oder er folgt den Wünschen seiner beiden Töchter, dass der Opa sich etwas mehr Zeit für seine drei Enkel nehmen solle . . .
Stationen im Leben
Christoph Reiners wurde am 28. Januar 1946 in Mönchengladbach geboren. Nach seinem Studium in Bonn, Wien, Kiel und Würzburg legte er 1971 die Ärztliche Prüfung ab. Weitere Stationen sind: 1974 Promotion sowie 1983 Habilitation im Fach Nuklearmedizin; ab März 1987 Professor für Nuklearmedizin sowie ab 1989 Leiter der Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin der Uni-Gesamthochschule Essen. Ab November 1994 bis Ende 2010 Direktor der Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin der Universität Würzburg. Ab 2001 bis Ende 2010 nebenamtlicher, ab 2011 bis Ende 2015 hauptamtlicher Ärztlicher Direktor des Uniklinikums Würzburg.
Wissenschaftliche Schwerpunkte von Professor Reiners: unter anderen die Diagnostik und Therapie von Schilddrüsenkrankheiten, insbesondere des Schilddrüsenkrebses, der Strahlenschutz in der Medizin sowie die nuklearmedizinische Diagnostik in der Onkologie, Neurologie, Gastroenterologie, Kardiologie und Urologie.
Neben seiner Tätigkeit am Uniklinikum Würzburg arbeitete Christoph Reiners in mehreren wissenschaftlichen Gremien mit; zum Beispiel in der Strahlenschutzkommission des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Vorsitzender 1996 bis 1998), im Medizinausschuss der EU (2000-2001), in der Expertengruppe „Health“ des Tschernobyl-Forums der Weltgesundheitsorganisation WHO (2003-2005), in der Schutzk
ommission beim Bundesinnenministerium (2011-2015) sowie im Verband der Uniklinika Deutschland (Vorstandsmitglied 2013-2015 sowie Vorsitzender IT-Ausschuss).
Die Behandlung und Nachsorge der Kinder, die durch das Reaktorunglück von Tschernobyl schwere gesun
dheitliche Schäden erlitten, liegt Christoph Reiners am Herzen. Seit 1996 ist er der Vorsitzende des Würzburger Vereins „Medizinische Hilfe für Tschernobyl-Kinder“, seit 2004 Vorstandsmitglied der Weißrussisch-Deutschen Stiftung „Arnica“ für die Versorgung von Tschernobylopfern mit Sitz in Minsk.
Für sein Engagement erhielt Professor Reiners viele Auszeichnungen. Eine Auswahl: 1996 Bundesverdienstkreuz, 2010 Light of Life Honorary Award (New York); 2010 Dr. Takashi Nagai Peace Memorial Price (N
agasaki), 2015 Bayerischer Verdienstorden. Zwei Mal wurde ihm die Ehrendoktorwürde verliehen: 2003 von der Uni Minsk sowie 2011 von der Akademie für Postgraduale Medizinische Fortbildung Minsk. Text: cj