Er steht neben den riesigen, farbenprächtigen Bocksbeuteln am Eingang zu den Wissensgärten der Würzburger Landesgartenschau. Die Sonne knallt vom blauen Himmel und nicht nur Tilmann Sailer trägt heute eine dunkle Sonnenbrille. Entspannt steht der Fotograf da, in Jeans und weißem Hemd mit blauen Tupfen.
Der 38-Jährige strahlt lässiges Selbstbewusstsein aus und hätte er seine Kamera dabei, würde er jetzt die ersten Motive einfangen. Von denen gibt es auf dem Gelände mehr als genug. Doch Sailer hat die Kamera nicht dabei. Nicht mehr. Er ist fast vollständig blind.
Wir reichen uns die Hand, tauschen die ersten Worte. Ganz unbefangen spricht er, wir lachen, der Ton ist locker und ich sehe und spüre, dass dieser Mann mit seinem Schicksal nicht hadert. Vier Jahre ist es her, dass die Ärzte die niederschmetternde Diagnose stellten. „Ich habe zwar seit 25 Jahren Diabetes, aber so etwas war in keinster Weise zu erwarten“, erzählt Tilmann Sailer.
Dass er dennoch heute hier ist und bislang jeden Ausflug zur Landesgartenschau genossen hat, liegt an den technischen Möglichkeiten und der eigens für das Gelände entwickelten App des Berufsförderungswerkes Würzburg wo Tilmann Sailer jetzt lebt und einen neuen Beruf lernt.
Auf dem Weg in ein neues Leben
Fachinformatiker ist das Ziel. Die Voraussetzungen sind gut, weil Sailer sich auf dem Gebiet schon immer gut ausgekannt hat. Stück für Stück zurück ins Leben. Oder sollte man lieber sagen, nach vorn? In ein neues Leben? „Beides“, sagt der Fotograf. Deshalb passt seine Geschichte ja auch so gut in das Motto der Themenwochen der Landesgartenschau vom 6. bis 19. Juli: „Alles bleibt anders.“ Die Blindeninstitutsstiftung überschreibt ihre Aktionen auf dem LGS-Gelände mit „Blind? Na Und?“
„Vielleicht ist das ein bisschen flapsig formuliert angesichts der Härte vieler Schicksale von Blinden“, meint Hellmuth Platz vom Berufsförderungswerk Würzburg in Veitshöchheim, „aber im Sinne der Inklusion durchaus auch ein treffendes Motto.“ Hellmuth Platz ist Tilmann Sailers Rehabilitationslehrer und Mitentwickler der Landesgartenschau-App „BFW Smartphone“.
QR-Codes an Bäumen
Über Sender und Satellit erkennt sie punktgenau, wo man sich gerade befindet und gibt Auskünfte über Objekte in der Umgebung. Die Bedienung mittels Smartphone ist ganz einfach, sagt der Diplom-Sozialpädagoge und die beiden erklären mir, wie die ganze Sache funktioniert. „Die Punkte auf den Wegen sind exakt eingemessen, das ist wichtig zur Orientierung.“ Die Stimme, die jetzt aus Sailers Handy tönt, klingt wie die klassische Navistimme aus dem Auto.
„Wenn das Schicksal einen schon blind werden lässt, dann lieber im Jahr 2018 als 1978“, sagt der 38-jährige Münchener. Und dass die Entwicklungen von Smartphone und Apps für Blinde ein wahrer Segen seien. Ich schließe die Augen hinter meiner Sonnenbrille und Tilmann Sailer drückt mir seinen Blindenstock in die Hand.
Wir laufen zum Wasserbecken und ich höre die Stimme von Hellmuth Platz, folge der Aufforderung, mich an seinem Oberarm festzuhalten. Wir gehen den Weg entlang und ich werde immer langsamer. Den weißen Stock schwinge ich vor mir in der Luft herum. Behutsam drückt Hellmuth Platz meinen Arm tiefer. „Der Stock muss über den Boden kratzen, immer hin und her.“
Mauern geben Sicherheit
Die App meldet mir einen der QR-Codes, die überall an Beeten, Bäumen und Schauobjekten angebracht sind. Ich suche nach der Informationstafel und taste dann die Oberfläche nach dem viereckigen Code ab. Ah, da ist er ja! Ich halte mein Handy zum Einscannen der Daten davor. Eine Frauenstimme liest den Text vor und Tilmann Sailer hört aufmerksam zu.
Langsam schreite ich weiter und bin froh, dass ich mit dem Stock die kleine Mauer neben mir berühren kann. Das gibt mir die Sicherheit, dass ich tatsächlich geradeaus laufe und auf einem Weg bin. „Die ganzen niedrigen Mauern an den Wegen der Landesgartenschau entlang sind nicht bewusst für die Orientierung von sehbehinderten oder blinden Besuchern entstanden. Aber sie sind jetzt Gold wert“, sagt Hellmuth Platz. Die Stimmen der Besucher neben und hinter mir werden lauter und leiser und ich höre deutlich die kleinen Springbrunnen plätschern. Viele Geräusche, die ich vor ein paar Minuten nicht wahrgenommen habe, dringen jetzt deutlich an mein Ohr.
Wacklig auf den Beinen
Ich fühle mich unsicher und plötzlich auch ein wenig wacklig auf den Beinen. Mobilitätstrainer Hellmuth Platz ist seit vielen Jahren Profi, weiß genau, wie es mir geht. Und dass jeder Mensch, der erblindet ist, anders reagiert, wenn er das erste Mal die Welt neu erkunden muss.
„Ziel ist es, sich möglichst rasch in der nahen und später auch weiteren Umgebung zurechtzufinden. Jeder Mensch hat da sein eigenes Tempo. Aber es gibt viele Übereinstimmungen, was das Empfinden betrifft.“ Bahnhöfe seien für viele eine Herausforderung, vor allem alleine am Bahnsteig entlangzugehen sei immer mit der Angst, ins Gleisbett zu stürzen, verbunden.
Plötzlich ist alles anders
Die Vorstellung, zu erblinden, empfinde ich als grausam. Hat Tilmann Sailer da nicht Panik, wenn er aufwacht und bestenfalls helle und dunkle Konturen erkennt? „Ja, es ist hart. Panik hatte ich nicht, weil die Umgebung ja noch sehr vertraut ist und man alles vor dem inneren Auge noch sehen kann. Angst macht einem, wie man das alles in Zukunft schaffen soll“, erzählt er. Plötzlich ist alles anders, Pläne und Selbstverständlichkeiten brechen einfach weg. „Ich war ziemlich mutlos am Anfang, war auch depressiv.“
Jetzt, in Würzburg, hat der Münchener seinen Weg gefunden. Überhaupt, Würzburg! Die Stadt, von der sein Vater immer sehr begeistert war. „So sehr, dass ich nach Tilmann Riemenschneider benannt wurde“, sagt der Fotograf lachend. Tilmann Sailer hat Würzburg früher ein paar Mal besucht, weiß also, wie die Stadt aussieht. „Das ist mir schon wichtig.“
Blinder Fotograf plant Ausstellung
Tilmann Sailer schlägt vor, zur Blumenhalle zu gehen. „Vor dem Eingang sind viele Blumen, die sich gut für ein Foto eignen“, sagt er. Von seinem Beruf mag er die Finger noch nicht ganz lassen. „Ich fotografiere mit einer Lochkamera, da spielt es keine Rolle, ein bestimmtes Objekt zu erfassen. Außerdem wirkt durch die verteilte Schärfentiefe alles unscharf und das ist sehr stimmungsvoll“, erklärt er. Der blinde Fotograf hat wieder Mut gefasst: „Ich plane eine Ausstellung mit diesen Fotos.“
Wir sind am Eingang der Blumenhalle angekommen. Zielstrebig führt uns Tilmann Sailer zu den prächtigsten Pflanzen. Den Blindenstock gebe ich Hellmuth Platz und gemeinsam tasten und riechen und lachen wir uns durch ein Meer an Blüten. Nichts zu sehen und doch alles zu erfassen – für den 38-Jährigen ist das ein langer Weg, den er aber mittlerweile hochmotiviert geht.
Aufbruchstimmung
„Seit ich im Berufsförderungswerk bin und dort ja auch täglich Menschen begegne, die das gleiche Schicksal teilen, fühle ich mich besser und viel sicherer.“ Tilmann Sailer lernt die aus acht Punkten bestehende Blindenschrift und man spürt seine Begeisterung, seine Aufbruchstimmung, als er von den Möglichkeiten spricht, die man heute als blinder Mensch am Computer hat. „Die Entwicklung in der Informatik-Branche ist gigantisch.“
Toll findet Sailer auch die Brillen, die mit einer kleinen Kamera ausgestattet sind und die 150 Gesichter speichern kann. „Wenn ich an jemandem vorbeilaufe, sagt mir die Stimme, wer das ist.“ Hellmuth Platz lacht. „Für mich ist das blöd, ich kann mich ja dann gar nicht mehr heimlich an jemandem vorbeimogeln!“
Vorsicht - Hoppla - Ups
Ich laufe noch ein Stück mit geschlossenen Augen und dem Blindenstock über die Wege und spüre wie dicht die Menschen plötzlich vor mir stehen, bevor sie ausweichen. „Vorsicht“, „Hoppla“ und „Ups“ sind die häufigsten Worte in diesen Begegnungen. „Die Leute auf den Straßen erlebe ich zum allergrößtren Teil als sehr freundlich und hilfsbereit“, sagt Tilmann Sailer. Es gebe aber auch immer mal wieder Ausnahmen, Menschen, die einem Sehbehinderten seine Behinderung nicht abnehmen wollen, weil er ja schließlich nicht komplett blind sei.
„Dabei ist das eher die Regel, viele verfügen über einen kleinen Rest an Sehvermögen, der ihnen aber nicht weiterhilft“, so Hellmuth Platz. Sei es, dass man Helligkeit und Dunkelheit noch unterscheiden könne oder so wie Tilmann Sailer noch über ein winziges Sichtfeld an einem Auge verfüge.
Ich setzte einen Fuß vor den anderen und stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich jetzt davonrennen müsste, weil Gefahr droht. Würde ich mich das trauen? Einfach blind loszurennen? Traut sich Tilmann Sailer das zu?
Einfach blind losrennen?
„Ich glaube nicht, dass ich jetzt hier lossprinten könnte, aber sehr zügig laufen, ja, das geht.“ Auch das sei Übungssache, schließlich gebe es ja auch im Blindensport Disziplinen, die genau das erfordern. Sport. Ach du liebe Zeit. Daran hatte ich gar nicht gedacht, als es vorhin um die Einschränkungen und den Verzicht in Tilmann Sailers neuem Leben ging. „Ich war begeisterter Rennradfahrer“, erzählt er jetzt. Und dass ihm das schon sehr fehle. Auch hier werde er sich etwas Neues suchen müssen.
Am Ende unseres Testrundgangs bin ich froh, dass ich meinen ursprünglichen Plan, blind über die Steine im Wasserbecken zu balancieren, auf Anraten von Experten Hellmuth Platz gleich wieder aufgegeben habe. Wir verabschieden uns und Tilmann Sailer beschreibt mir, wo genau wir am Gelände uns befinden und wo die Ausgänge sind.
Dass ich mir den Weg zurück zum Parkplatz jetzt schon von einem Blinden erklären lassen muss, bringt uns alle zum Lachen. Orientierung war noch nie mein Ding. Aber ich weiß ja jetzt: Alles ist lernbar.
„Alles bleibt anders“: LGS-Höhepunkte vom 6. bis 19. Juli Erlebnisse in lichtlosen Räumen: Blindenfußball und Theater präsentiert die Blindeninstitutsstiftung Würzburg am 7. Juli, 9.30 Uhr bis 16 Uhr am Eingang Wissensgärten. Die „Baustellenrevue“ gibt es am 12. Juli um 9.30 Uhr im Flying Circus, The Braillers spielen am 12. Juli um 16 Uhr, Tribüne Alter Park, Blindenfußball gibt es am 18. Juli um 10 Uhr, Eschenallee, eine Ausstellung folgt am 22. Juli um 9 Uhr, Library. Floristik im Wandel: In der Blumenhalle dreht sich vom 6. bis 19. Juni alles um die Floristik. Schon im 19. Jahrhundert trennte man zwischen Produktionsgärtnereien und eher künstlerisch geprägten Betrieben. In der Blumenhalle gibt es einen Einblick in klassische und moderne Formensprache. Flying Circus: Die Welt ist kunterbunt. Der Flying Circus lädt in den nächsten beiden Wochen ein zum Basteln und Malen. Die Handwerker vom Blindeninstitut zeigen in ihrem Theaterstück „Baustellenrevue“ wie eine Gartenschau entsteht. Tanzvielfalt in Würzburg: Tänzerinnen und Tänzer verschiedener Tanzschulen zeigen am 15. Juli ab 11 Uhr auf der Hauptbühne und der Tribüne Alter Park ihr Können. Im Flying Circus gibt es dazu Mini-Workshops. Afroamerikanische Musik verschiedener Künstler und DJs gibt es am 13./14./15. Juli jeweils um 16 Uhr auf der WVV-Bühne am Belvedere. Höhepunkt ist Lucky Peterson an der Gitarre und B3-Orgel. Beim Gartenfest des Radiosenders Puls am 7. Juli geben sich angesagte Bands und Newcomer auf Open-Air-Bühne die Klinke in die Hand. Los geht es um 18 Uhr. Einen Schwimm-Weltrekordversuch der SVW 05-Schwimmelite gibt es vom 13. bis 22. Juli jeweils ab 9.30 Uhr auf dem Hublandsplatz in einem Pool mit Gegenstromanlage. Die Schwimmer versuchen 51 Kilometer in zehn Etappen unter 10 Stunden zu schwimmen. Außerdem gibt es einen virtuellen zehntägigen Benefizlauf auf sieben Laufbändern „quer durch Europa“ zugunsten der Kinderhilfe Organtransplantation.