Es ist der Moment, in dem sich der Vorhang im Herbst 1954 vor ihr öffnet. Ihr Blick fällt das erste Mal auf das Anfangsbild der Puccini-Oper „Madame Butterfly“. Der Moment, in dem sie die ersten Töne der Arien hört. Der sie nicht mehr loslassen wird, 60 Jahre lang. Das Theater zieht Ruth Rüger in seinen Bann, verzaubert sie, bis heute.
Seit sechs Jahrzehnten ist die mittlerweile 92-Jährige Ringleiterin für das Taubertal. Das heißt, so lange organisiert sie für Theaterfreunde aus Lauda-Königshofen und Umgebungen Fahrten ins Würzburger Mainfrankentheater. Dafür gab es diese Woche in der Pause des Ballets „Dornröschen“ Glückwünsche vom Intendanten Hermann Schneider, dem Geschäftsführer Dirk Terwey und der Ballettdirektorin Anna Vita.
Ihre wievielte Vorführung sie an diesem Tag besuchte, das kann Ruth Rüger nicht genau beziffern. „Es dürften aber sicher über 500 gewesen sein“, sagt sie. Acht Vorstellungen besucht sie mit den zwölf Ringmitgliedern pro Spielzeit. Macht bei 60 Jahren alleine 480 Vorstellungen, viele Besuche außerhalb des Rhythmus kamen hinzu.
„Ich habe so viel Theater erlebt“, sagt sie, meint gute wie schlechte Zeiten, gute Intendanten und welche, mit denen sie unzufrieden war. Vorstellungen noch in den Turnhalle der Uni am Wittelsbacherplatz. Die Eröffnung am heutigen Stadtort 1966. Das Jahr 2001, als das Theater kurz vor dem Aus stand und die Zeit danach, in der sich die Szene wieder berappelt und zu alter Hochform auflief.
Ein Rückblick: Wie das ursprüngliche Stadttheater in der Theaterstraße, gegenüber des heutigen Hauses, liegt auch die Bleibe der gebürtigen Würzburgerin nach dem 16. März 1945 in Schutt und Asche. Während das Theater am Wittelsbacherplatz weiter macht, zieht Ruth Rüger mit ihrem mittlerweile verstorbenem Mann nach Gerlachsheim (Main-Tauber-Kreis). Dem Lehrerehepaar liegt viel daran, Jung wie Alt die Theaterkultur näher zu bringen, sie organisieren erste Fahrten mit einem Kleinbus. Zu Spitzenzeiten fahren 86 Theaterfreunde unter ihrer Organisation nach Würzburg.
Bus fährt sie heute nicht mehr, stattdessen kommt die Gruppe mit Privatwagen in die Stadt. Ruth Rüger lässt sich gerne von ihrem Enkel fahren. „Den konnte ich auch schon für das Theater begeistern“, freut sie sich. Und auch wenn sie mit ihm mittlerweile die dritte Folgegeneration in die grauen Samtsessel bringt, denkt sie nicht ans aufhören. Erst recht nicht, seitdem die Vorschau auf die Spielzeit 2014/15 kennt.
Am 28. September feiert „Madame Butterfly“ Premiere. Da wird Ruth Rüger in einem der grauen Sessel sitzen, dann wird der Vorhang aufgehen, sie wird einen ersten Blick auf das Bühnenbild haben. Und es wird sie verzaubern, wie damals, im Herbst 1954, wie heute.