Sturmtief Egon hat am 12. und 13. Januar in vielen Teilen Europas für Chaos gesorgt. Autos rutschten von den Straßen, Flüge fielen aus. Es gab Tote und Verletzte. In Deutschland werden die versicherten Schäden auf 140 bis 160 Millionen Euro geschätzt.
An der britischen Nordsee wurden aus Angst vor Überschwemmungen Ortschaften evakuiert, in Frankreich waren zeitweise hunderttausende Haushalte ohne Strom. Mancherorts erreichte Egon Orkanstärke. Mitten drin die Aida-Prima, die auf ihrem Weg von Rotterdam in den Hamburger Hafen von einer extremen Böe erwischte wurde. Zufällig als Gast mit an Bord war unsere Autorin Susanne Popp. Knapp zwei Wochen später beschäftigt das sturmgebeutelte Schiff Verantwortliche, Passagiere und Kreuzfahrtbegeisterte noch immer. Eindrücke von einem Abend, der länger als jeder andere Urlaub in Erinnerung bleiben wird.
Alles schwankt. Draußen türmen sich schwarze Wellenberge, der Wind peitscht weiße Gischt auf. Im Beach Club auf Deck 15 der Aida-Prima stehen die Sektgläser bereit, die Tischdecken flattern. Sturmtief Egon pfeift in den Club, sobald sich die Türen zum längst gesperrten Außendeck öffnen. Mein Freund und ich liegen am Rand, blicken auf die aufgewühlte Nordsee. Plötzlich kippt das Schiff zur Seite. Gläser und Flaschen stürzen zu Boden, zerspringen. Tische und Stühle fallen um. Die Böe drückt das Schiff wieder zurück. Ich blicke hoch und Wasser überspült mich. Wir springen auf. Die nasse Jeans klebt an den Beinen, um die Schuhe schwimmen Glassplitter. Liegen werden einfach weggeschwemmt. Dass der Pool übergeschwappt ist, begreife ich erst später. Auch wenn wir auf einer Winterkreuzfahrt in der Nordsee mit Sturm und Wellen gerechnet haben – das erschreckt.
Es war eine extreme Böe, die das Schiff erwischt hat.
Eigentlich sollte an diesem Abend gefeiert werden. Es ist der Schlusspunkt einer einwöchigen Urlaubsreise mit dem Flaggschiff von Aida Cruises. Von Sturm Egon war unterwegs wenig zu merken, einzig der geplante Hafen Zeebrugge musste ausgelassen werden. Die See blieb ruhiger als auf so mancher Mittelmeertour, zeitweise schien die Sonne. Bis zum letzten Tag. Beim Essen torkeln die Gäste in Dinner-for-One-Manier zwischen den Tischen, noch wird darüber geflachst. Der Wind hat mittlerweile Stärke 10 erreicht, die Wellen sieben Meter. Als die Böe uns trifft, verstummt jedes Lachen. In den Restaurants im Bauch des Schiffes, so sehen wir es später in Videos anderer Passagiere, fliegen Geschirr und Besteck von den Tischen, Porzellan zerbricht.
Im Beach Club um uns herum herrscht Chaos. Hier, ganz oben auf dem Schiff, ist die Wucht der Wellen vielleicht am heftigsten zu spüren. Alles ist nass. Ob Menschen schreien? Ob ich selbst etwas rufe? Ich weiß es nicht mehr. Wir waten zum Treppenhaus. Der Kapitän fordert alle Gäste auf, in die Kabinen zu gehen, Lifte nicht mehr zu nutzen und den Außendecks fernzubleiben.
Es war eine extreme Böe, die das Schiff erwischt hat, erklärt Aida-Sprecher Hansjörg Kunze auf Nachfrage. Zwei Menschen erlitten Prellungen, einer eine Fraktur. Der Kapitän habe das Schiff sofort aus dem Wind genommen und sei einen Alternativkurs gefahren. „Aus technisch-nautischer Sicht sind da keine Grenzen erreicht oder überschritten worden. Aber uns ist sehr wohl klar, dass man da bei diesen beiden Bewegungen ordentlich Angst haben kann, speziell in dem Bereich, wo Sie waren“, sagt Kunze. In Gefahr sei das Schiff aber zu keiner Zeit gewesen.
Die Kabine ist verwüstet, Flaschen, Kleidung, Bücher liegen auf dem Boden.
Im Nachhinein lässt sich das verstehen, glauben. In der verwüsteten Kabine, wo Trinkflaschen, Kleidung, Bücher auf den Boden gefegt wurden, überlagert die Furcht das rationale Denken. Unter dem Schock, von salzigem Wasser überspült worden zu sein, fühlt sich die Situation bedrohlich an. Wir ziehen warme Sachen an und wollen raus aus dem fensterlosen Raum, dahin, wo die Rettungsboote im Notfall nicht weit sind, auf Deck sechs. Die Rettungsweste mitzunehmen war vielleicht panisch, in diesem Moment instinktiv. Im Treppenhaus herrscht reges auf und ab. Manch einer klammert sich verstört am Geländer fest, andere laufen mit den Handys in die Restaurants, um Bilder von der Zerstörung zu machen. Der eine hat Angst, der andere empfindet all das als großes Abenteuer. „Da gibt es unterschiedliche Sensibilitäten“, sagt Aida-Sprecher Kunze.
Für mich ist es nicht die erste Kreuzfahrt, nicht das erste Erleben von Wind und Wellen. Aber das deutlich extremste. Das Herz klopft bis zum Hals, die Finger zittern. Auf Deck sechs kümmern sich Crewmitglieder um uns, beruhigen, erklären, bringen Wasser zu trinken. Und versichern, es könne nichts passieren. Das Schiff sei für deutlich härtere Wetterlagen gebaut worden, sagt Kunze. „Es war ein Sturm mit Wetterbedingungen, die durch die Vorhersage eine Weiterfahrt nach und eine Ankunft in Hamburg gedeckt haben.“ Das bestätigt auch Professor Stefan Krüger vom Institut für Schiffssicherheit der Technischen Universität Hamburg. „Für den einzelnen Menschen mag die Situation bedrohlich gewirkt haben, das Schiff war aber weit davon entfernt, gefährdet zu sein“, so Krüger.
Eine Offizierin erzählt von Fernseh-Abenden auf angeketteten Sesseln.
Sicher war entscheidend, wo Passagiere den Orkan erlebten. Das Schiff liegt in der Mitte am ruhigsten. Wir sitzen jetzt am Rand des verwaisten Zuschauerraums im Theatrium. Hier finden normalerweise die abendlichen Shows statt, heute bleiben die Scheinwerfer aus, die Boxen still. Zwei Crewmitglieder flankieren uns, sind da, dringen darauf, nach dem Schock und zu lange zitternden Händen im Hospital auf Deck drei vorbeizugehen.
Statt Beruhigungsmitteln hilft menschliche Wärme: Eine Offizierin setzt sich mit uns in eine Ecke, erzählt Anekdoten aus ihrer Zeit auf einem Containerschiff. Von noch wilderen Unwettern, von Fernseh-Abenden auf angeketteten Sesseln. Die Geschichten lenken ab. Und endlich wird das Schaukeln weniger.
Der Kapitän hat das Schiff aus dem Sturmgebiet rausgefahren, erklärt Hansjörg Kunze. Er habe die Fahrtrichtung geändert, gen Norden zunächst, und sei dann sozusagen mit Rückenwind die Elbe runter. In Durchsagen beschreibt der Kapitän, was passiert. Die Böe liegt mittlerweile Stunden zurück. Das Schiff wankt nur noch leicht. Irgendwann ist die Elbe erreicht. Sturm Egon scheint überwunden. Trotzdem sind die Beine noch wackelig, als wir zurück in die Kabine gehen. Viel Schlaf bekomme ich nicht mehr.
Inmitten der wild wogenden Wellen fühlten wir uns auch auf dem riesigen Schiff plötzlich klein.
Am nächsten Morgen ist alles ruhig, wir liegen im Hamburger Hafen.
„Orkantief Egon machte sich breit über der Nordsee, aber dem haben wir den Gar ausgemacht und anständig abgewettert“, wird
der Kapitän später bei einer Presseveranstaltung
sagen. Unbeeindruckt, anders als wir. Der entstandene Schaden ist gering, vor allem Glas- und Geschirrbruch, sagt Aida-Sprecher Kunze. Die drei Verletzten werden ins Krankenhaus gebracht, auf Facebook drohen einige Passagiere mit Klagen. Dass es Ansprüche auf Entschädigungen gibt, bezweifelt Paul Degott, Anwalt für Reise- und Touristikrecht. „Ein Sturm ist mit Sicherheit höhere Gewalt und wenn man mit einem Hochseeschiff fährt, weiß man, dass Wasser nicht immer ruhig ist.“ Für Schadenersatz brauche es ein Verschulden der Reederei, so der Experte, und das sei ein Sturm nicht.
Als wir durch den Beach Club auf das Außendeck laufen, ist vom nächtlichen Chaos kaum noch etwas zu sehen. Keine Splitter, alle Möbel stehen. Der Pool ist leer und abgesperrt. Die Crew hat alles beseitigt. Über der Hansestadt scheint die Sonne. Ich blinzele. Schön. Beim Blick auf den Anlegeplatz wirkt das Schiff wieder erhaben, riesig im Vergleich zu den winzigen Menschen an Land. In der Nacht hingegen fühlten wir uns in den wogenden Wellen, inmitten der wilden Natur, erschreckend klein. Ein Gefühl, das sicher nicht so schnell wie das Schaukeln vergessen ist.
Der internationale Kreuzfahrtverband Clia rechnet für das laufende Jahr mit insgesamt 25,3 Millionen Passagieren weltweit, für das Jahr 2016 mit 24,2 Millionen Gästen. So teilt es Clia (Cruise Lines International Association) Deutschland auf seiner Homepage mit. Vor allem würden auch mehr jüngere Gäste erwartet. Zudem sollen 2017 mehr Schiffe in See stechen – für 26 neue Hochsee-, Fluss und Spezialkreuzfahrtschiffe sei die Jungfernfahrt geplant. Bislang sind 448 Kreuzfahrtschiffe unterwegs. Bis zum Jahr 2026 erwartet die Branche, dass 97 neue Schiffe mit einem Investitionsvolumen von 53 Milliarden US-Dollar in Dienst gehen. In Deutschland haben 2015 allein 1,81 Millionen Deutsche eine Hochseekreuzfahrt unternommen. Die Bundesrepublik ist demnach Kreuzfahrt-Europameister. Nur aus den USA stammen weltweit noch mehr Passagiere (11,3 Millionen Passagiere). sp/lby