"Das Studium des Traumes dürfen wir als den zuverlässigsten Weg zur Erforschung der seelischen Tiefenvorgänge betrachten", sagte schon der Psychoanalytiker Sigmund Freud. Seit Beginn der Corona-Pandemie verfolgt und beschäftigt viele Menschen das Virus und seine Folgen auch im Schlaf. In Studien berichten Befragte von wiederkehrenden und unheimlichen Träumen in Zusammenhang mit Corona. So können Umarmungen beispielsweise schnell zum Albtraum werden.

Verstärkte Erinnerung an Träume
Schon Anfang Mai 2020 hatte Michael Schredl, Schlafforscher am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, mit einem US-Kollegen rund 3000 US-Amerikaner von einem Meinungsforschungsinstitut befragen lassen. Die Daten seiner "Traum-Studie" veröffentliche er im September im Fachjournal "Dreaming".
Knapp 30 Prozent der Befragten gaben demnach an, sich in der Corona-Krise verstärkt an ihre Träume zu erinnern. 15 Prozent erlebten schlechtere Träume – acht Prozent aber bessere. Je stärker die Befragten selbst von der Pandemie betroffen waren, desto unangenehmer wurden auch ihre Träume. Rund 250 Befragte berichteten von konkreten Corona-Albträumen, am häufigsten ging es dabei um Maßnahmen und die Angst vor der Krankheit selbst.
Den Psychoanalytiker Pierre-Carl Link überrascht das nicht. "In Träumen bewältigen wir den Alltag", sagt Link, Lehrbeauftragter am Arbeitsbereich Medizinische Psychologie und Psychotherapie am Zentrum für Psychische Gesundheit in Würzburg. Bei seinen Psychotherapie-Sitzungen mit Patienten gehe es immer wieder auch um Träume. Dabei sollte ihre Deutung immer "in den konkreten Lebensverlauf des Patienten eingeordnet werden", sagt Link. "Der Traumdeuter ist der Patient selbst."
Wesentliche Funktion eines Traums: Verarbeiten
Die wesentliche Funktion eines Traums: Verarbeiten. "Wir lernen sogar im Traum und wiederholen Dinge, die wir im Alltag erlebt haben", sagt Link. Er nennt geschlossene Grenzen, Zäune oder Mauern als Beispiele von Corona-Träumen.
In der Befragung in den USA berichteten Teilnehmer auch von überfüllten Orten, einer großen Welle, die einen packt und überwältigt, oder sogar vom Tod. "Der Mensch träumt immer, wenn er schläft. Aber während Corona erinnert er sich mehr an seine Träume", sagt der Psychologe. Dies liege auch daran, dass sich der Mensch an schlechte Träume eher erinnere, als an gute: "Denn sie beschäftigen uns noch eine ganze Weile im Alltag."
Würzburger Schlaflabor: Pandemie wirkt sich auf Schlafverhalten aus
Dass sich die Corona-Pandemie auf das Schlafverhalten auswirken kann, sagt auch Jan Spering. Der 58-Jährige ist für Therapie und Technik im Team des Schlaflabors an der Uniklinik Würzburg verantwortlich. "Der Schlaf ist kein passiver Zustand, er bildet eines der Verarbeitungszentren der Psyche", sagt Spering. "Wenn tagsüber ein großes Angebot an anregenden oder ungelösten Problemen besteht, dann habe ich nachts die Herausforderung, das am Tag erlebte, zu verarbeiten."
In der Pandemie sei dieses "Angebot" an ungelösten Problemen und Fragen in die Höhe geschnellt, der Mensch übernehme die offenen Fragen mit in die Nacht. "Prasseln tagsüber viele schlechte Nachrichten und Eindrücke auf den Menschen ein, werden diese in der Nacht vom Unterbewusstsein bearbeitet", sagt Spering. Die Folge: schlechte Träume.

Folgen des schlechten Schlafes
Auch wenn der Schwerpunkt des Schlaflabors der Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten im Bereich der atembezogenen Schlafstörungen liegt, berichten Sperings Patienten, dass sich die Corona-Krise als zusätzliche Herausforderung auf ihren Schlaf auswirkt. "Wenn man sowieso eine schlechte Schlafqualität hat und dann noch tagtäglich mit schlechten Nachrichten konfrontiert wird, ist das natürlich belastend", sagt Spering. Ein Kontrollverlust während der Pandemie sei für viele "mit das Schlimmste".
Die Folgen von unzureichender Schlafqualität und Schlafmangel können gravierend sein. Neben einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankung und einer geminderter Gedächtnis- und Arbeitsleistung werde auch das Immunsystem geschwächt: "Ein guter, erholsamer Schlaf stärke die Infektionsabwehr", sagt Spering. "Schlechter Schlaf bedeutet somit eine höhere Infektanfälligkeit."
Der Wunsch nach körperlicher Nähe
Welche Art von Träumen die Pandemie verursacht, zeigte auch eine Studie an der Universität Helsinki: 811 Freiwillige berichteten einem Team um die Psychologin Anu-Katriina Pesonen den Inhalt ihrer Träume. Verlorene Pässe oder überfüllte Orte kamen dort immer wieder vor - genauso wie Händeschütteln oder Umarmungen, die wegen der Abstandsregeln als Fehlverhalten empfunden wurden.
"Diese Träume können auch bedeuten, dass sich die Person körperliche Nähe wünscht", sagt Psychologe Pierre-Carl Link. Denn: "Auch wenn wir digital sozial so vernetzt sind, wie noch nie, sind wir auch so isoliert wie noch nie." Und Schlaflabor-Mitarbeiter Jan Spering sagt: "Man holt sich im Traum das, was am Tag nicht zu erfüllen ist."
Der Traum ist also ein Umgang mit Tagesresten. Was der Mensch am Tag vorher erlebt hat, taucht in der Nacht wieder auf. Die Corona-Träume seien somit nichts Außergewöhnliches, sagt Link, sondern passten zu den Erklärungen in der Traumforschung: "Im Traum erleben wir Dinge meist übersteigert und dramatisiert – aber eben auch verschlüsselt." Corona als globales Trauma mache deutlich, dass sich viele Menschen ängstigen. Und dies spiegele sich in den Träumen wider – nur deutlich emotionaler.
Mit Informationen von dpa