Wäre Wilhelm Conrad Röntgen ein bisschen ordentlicher gewesen – die nach ihm benannten Strahlen hätte er vermutlich nie entdeckt. Als er im Herbst 1895 wie so oft in seinem Labor des Physikalischen Instituts der Universität Würzburg mit Kathodenstrahlen experimentierte, begannen ein paar Brösel Bariumplatincyanür auf einem unaufgeräumten Schreibtisch zu leuchten. Das Glimmen des fluoreszierenden Stoffes hörte auch nicht auf, als Röntgen seine Kathodenröhre mit Papier, Pappe, Holz und allerhand mehr abschirmte: Die Strahlen hatten die Eigenschaft, Materie zu durchdringen. Diese Entdeckung am 8. November machte den Forscher weltberühmt und revolutionierte Physik und Medizin.
„Was in den Wochen nach dieser Entdeckung passierte, charakterisiert den Wissenschaftler und Menschen Röntgen ziemlich gut“, sagt Roland Weigand vom Kuratorium der Röntgen-Gedächtnisstätte in Würzburg. Offenbar verließ Röntgen danach kaum noch sein Labor, so sehr bannte ihn die Entdeckung der unbekannten Strahlen, die er deshalb X-Strahlen nannte. „Er ließ sich das Essen dorthin bringen, sogar ein Bett soll er im Labor aufgestellt haben – und das, obwohl er als Leiter des Instituts nur einen Stock höher mit seiner Frau Bertha gewohnt hat“, sagt Weigand.
Doch selbst diese kurze Wegstrecke schien Röntgen damals zu weit.
Als Röntgen mit 50 Jahren die X-Strahlen entdeckte, war er bereits ein in Fachkreisen geschätzter Wissenschaftler. Er hatte eine akademische Karriere hingelegt, an die mehr als 30 Jahre zuvor niemand zu denken gewagt hatte. 1863 wurde der gebürtige Lenneper im holländischen Utrecht ohne Abitur von der Schule geworfen, weil er für die Karikatur eines Lehrers verantwortlich gemacht wurde, die gar nicht von ihm war. Offiziell durfte Röntgen in Utrecht deswegen nicht studieren und war nur als Gasthörer eingeschrieben. Später ging er nach Zürich an die Polytechnische Hochschule. Dort war ein Studium ohne Abi möglich.
In der Schweiz lernte er nicht nur seine spätere Frau kennen, sondern auch August Kundt, bei dem er Physik studierte. Schließlich promovierte Röntgen in Zürich und wurde Kundts Assistent. Es folgten viele weitere Stationen an verschiedenen Hochschulen, ehe Röntgen 1888 einen Ruf als Professor nach Würzburg annahm. „Diese Entscheidung zeigt, dass ihm die Experimentalphysik über alles ging“, sagt Roland Weigand. Denn Röntgen hätte allen Grund gehabt, Würzburg zu meiden. Als er 1870 als Kundts Assistent erstmals nach Unterfranken kam, durfte er an der Uni trotz Doktortitel wegen seines fehlenden Abiturs nicht habilitieren.
„Würzburg hatte damals das am besten ausgestattete physikalische Institut in Deutschland, vielleicht sogar in Europa“, sagt Weigand. Deshalb zögerte Röntgen nicht lange und zog von Gießen an den Main. Und dort forschte und forschte er, was die Zeit hergab. Zeitgenossen bezeichneten ihn als Kauz, als Sozialphobiker, aber auch als Genie, akribischen Forscher und Wissenschaftler. Zuvorderst aber war er uneitel. Als er im Januar 1896 nach zahllosen Experimenten erstmals die X-Strahlen öffentlich präsentierte, begann er den Vortrag offenbar mit den Worten: „Durch Zufall entdeckte ich diese Strahlen.“
Nach dem Vortrag wurde von Zuhörern der Vorschlag gemacht, die von Röntgen entdeckten Strahlen auch nach ihm zu benennen. Dafür fand sich eine große Mehrheit, entgegen Röntgens ausdrücklichen Wunsch. Er meldete für die Strahlen und deren Nutzung auch kein Patent an, ihm ging es nicht um Ruhm oder Geld, sondern um die Wissenschaft. Später beanspruchten auch andere Forscher die Entdeckung für sich. Das ging so weit, dass ihm manche den ersten Nobelpreis für Physik im Jahr 1901 am liebsten wieder aberkennen wollten.
Röntgen selbst belastete die Entdeckung noch aus einem anderen Grund. Auch wenn er testamentarisch verfügt hatte, dass alle Aufzeichnungen außer den veröffentlichten Aufsätzen nach seinem Tod vernichtet werden sollten: Es ist mehrfach überliefert, wie sehr er sich daran störte, als Experimentalphysiker „nur“ auf diese eine Entdeckung reduziert zu werden, erzählt Weigand. „Er hat 70 Aufsätze geschrieben, nur drei davon befassen sich mit den X-Strahlen.“
All diese Umstände mögen ein Grund dafür sein, dass Würzburg seinen bekanntesten Physiker lange Zeit eher stiefmütterlich behandelte. Die Gedächtnisstätte in Röntgens Labor, das in den heutigen Räumen der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt (FHWS) liegt, wurde erst 1985 eröffnet, 90 Jahre nach Röntgens bahnbrechender Entdeckung. Man muss das Haus am Röntgenring, in dem sich das Labor befindet, schon genau kennen, um nicht an ihm vorbei zu laufen oder zu fahren.
Zwar erinnert an der Fassade des Gebäudes Röntgenring 8 eine Inschrift daran, was sich hier vor 120 Jahren zugetragen hat, doch findet man den seitlich gelegenen Eingang und betritt das Haus, wähnt man sich zunächst nicht an einem Ort, an dem Geschichte geschrieben worden ist. Immerhin wurde die Gedächtnisstätte, die sich wohl bewusst nicht Museum nennt, jetzt behutsam modernisiert. Im langen Flur, der zu Röntgens Originallabor führt, werden auf der linken Wand die wichtigsten Stationen im Leben Röntgens in Wort und Bild nacherzählt. Auf der gegenüberliegenden Wand sind frühe Rötgenaufnahmen zu sehen, die nur wenige Wochen nach der Entdeckung der X-Strahlen in Wien entstanden sind. Auch einige Vitrinen wurden etwas aufgemöbelt.
Diese neue Präsentation entstand in diesem Jahr als Studienprojekt von Studierenden der Fakultät Gestaltung der FHWS, die in dem Gebäude Architekten und Bauingenieure ausbildet. Anders hätte sie das Röntgen-Kuratorium mit seinen 68 Mitgliedern, das die Gedächtnisstätte ehrenamtlich betreibt, auch nicht finanzieren können, so der Radiologe Dietbert Hahn, der Kuratoriumsvorsitzende. Das Kuratorium pflegt seit 30 Jahren ehrenamtlich das Andenken an Röntgen.
Zentraler Ausstellungsraum ist natürlich das Original-Labor Röntgens, in dem er die neuen Strahlen entdeckte. Dort können sich Besucher bei Führungen Röntgens Versuchsanordnung zeigen lassen und allerlei Interessantes erfahren. Ins Röntgen-Labor sind seit einigen Jahren auch einige originale Exponate wie ein Waffenschrank und Jagdtrophäen (Röntgen war begeisterter Jäger), ein Schreibtisch und Teile seiner Bibliothek zurückgekehrt, die jahrzehntelang im Röntgen-Museum in Lennep, dem Geburtsort Röntgens, ausgestellt waren. Dorthin hatte sie die Uni Würzburg verliehen. Die Wohnung Röntgens, im Stockwerk über dem Labor, wurde jahrelang für Verwaltungszwecke genutzt.
Neben dem Labor befindet sich ein zweiter Schauraum mit mehreren Ausstellungsvitrinen mit Dokumenten und Gegenständen aus Röntgens Leben. Diesen Raum möchte das Kuratorium in den nächsten zwei Jahren modernisieren, um hier beispielsweise Filme über Röntgen und seine Entdeckung zu zeigen, was für zeitgemäße Ausstellungsräume geradezu zwingend ist. Lediglich im Foyer der Gedächtnisstätte können sich Besucher an einem Bildschirm einen Film über Röntgen und seine Entdeckung ansehen.
Ganz anders ist es im Röntgen-Museum in Lennep, heute ein Stadtteil von Remscheid im Bergischen Land, das bereits 1932 am Geburtshaus Röntgens gegründet wurde. Auf einer Ausstellungsfläche von 2100 Quadratmetern gibt es interaktive Stationen, Inszenierungen, Modelle, Fotografien und Filme. Das Museum wurde im Lauf der Jahrzehnte einige Male umgestaltet. Eine abermalige Neukonzeption ist für 2017 vorgesehen.
Allerdings kommt echte Ehrfurcht nur am Ort der Entdeckung auf. Deshalb findet in der Gedächtnisstätte an diesem Sonntag ein Tag der offenen Tür statt. Stündlich werden von 10 bis 18 Uhr Führungen angeboten.
Röntgen-Jubiläum: Breakdance trifft Physik
Zum 120. Jahrestag der Entdeckung ehren die Stadt Würzburg, die Julius-Maximilians-Universität, das Röntgen-Kuratorium Würzburg und die Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt den genialen Physiker mit einer Reihe von Sonderveranstaltungen.
In ihrer öffentlichen Vorlesungsreihe „Physik am Samstag“ bietet die Fakultät für Physik und Astronomie am Samstag, 7. November, ein Röntgen-Thema an: „Röntgenstrahlung in der modernen Materialprüfung – Röntgens Jagdgewehr im Mikro-Computertomographen“. Der Vortrag von Professor Randolf Hanke beginnt um 10.30 Uhr im Naturwissenschaftlichen Hörsaalgebäude am Hubland. Röntgen begründete mit einer Aufnahme seines Jagdgewehrs die „zerstörungsfreie Werkstoffprüfung“ als wichtiges Anwendungsfeld der Röntgenstrahlen. Hanke stellt die enorme Weiterentwicklung auf diesem Gebiet vor. Der Vortrag wird von einer Tanzpremiere ergänzt: Breakdancer von der Würzburger Tanzschule DanceEncore zeigen erstmals die Choreographie „Movement PhysiX – Erfolgsstory Röntgen“, die von Stadt und Universität extra zum Röntgen-Jubiläum gestaltet wurde.
Auch die Physik-am-Samstag-Vorträge vom 5. Dezember 2015 (Michael Sing: „Interface takes charge over Silicon“ – Oxid-Schichtsysteme als neue Materialien der Nanoelektronik“) und vom 6. Februar 2016 (Jörn Wilms: „Das Universum im Röntgenlicht – Astrophysik der Extrema: Neutronensterne und Schwarze Löcher“) stehen im Zeichen des Röntgen-Jubiläums. Nach den Vorträgen von „Physik am Samstag“ werden jeweils Sonderführungen durch die Ausstellung TouchScience im Mind-Center der Universität auf dem Campus Nord angeboten.
Tag der offenen Tür: Röntgen entdeckte die X-Strahlen am Abend des 8. November 1895 im damaligen Physikalischen Institut. In dem Gebäude unterhält heute das Röntgen-Kuratorium Würzburg die Röntgen-Gedächtnisstätte (siehe Bericht oben). Sie wurde zum 120. Jahrestag renoviert. Vom Ergebnis können sich alle Interessierten am Sonntag, 8. November, bei einem Tag der offenen Tür überzeugen. Von 10 bis 16 Uhr gibt es stündlich Führungen. Zudem werden an historischen Geräten die Originalversuche gezeigt, die Röntgen damals durchführte.
Die Gedächtnisstätte befindet sich im Gebäude Röntgenring 8:
Eine Ausstellung über Röntgen und sein Werk ist derzeit im Würzburger Rathaus zu sehen, erarbeitet vom Universitätsarchiv und der Unibibliothek. Auf zehn Tafeln werden Röntgens Werdegang und die Entdeckung der X-Strahlen nachgezeichnet. Außerdem thematisiert die Ausstellung unter anderem die Verleihung des Nobelpreises und die weitreichenden Auswirkungen der Entdeckung. Bis Sonntag, 8. November, ist die Ausstellung im Rathaus zu sehen, vom 10. November bis zum 22. Dezember im Uni-Hörsaalbau der Naturwissenschaften am Hubland, sowie vom 11. bis 29. Januar 2016 in der Sparkasse Mainfranken Würzburg. Text: micz
Die Website zum 120. Röntgenjubiläum: www.wuerzburg.de/roentgen