Prof. August Stich, Vorsitzender des Missionsärztlichen Insituts und Chefarzt an der Missio-Klinik unter dem Dach des Klinikums Würzburg Mitte, ist seit Beginn der Corona-Pandemie ein gefragter Experte. Der Infektiologe und Tropenmediziner aus Würzburg fordert globale Solidarität bei der Bekämpfung der Seuche.
Die Diskussion, ob die Lockerungen zu weit oder nicht weit genug gehen, verunsichert die Menschen. Offensichtlich kann keiner die Entwicklung der Pandemie einigermaßen sicher einschätzen. Warum nicht?
August Stich: Dass man sich ein eindeutiges Ja oder Nein auf die Frage wünscht, ob man die Beschränkungen jetzt lockern kann, ist verständlich. Aber leider kann die Wissenschaft diese Antwort nicht liefern, sondern bestenfalls Wahrscheinlichkeiten für Konsequenzen angeben. Über viele Aspekte der Virusausbreitung wissen wir im Moment noch zu wenig.
Was macht die Verbreitung so schwer abschätzbar?
Stich: Zum einen werden ja nicht alle Menschen, die infiziert sind, krank. Wir haben in unserer Klinik eine Reihe von Leuten gesehen, die positiv getestet waren und nur leichte Symptome hatten. Tückisch ist, dass diese aber trotzdem die Viren weiter geben. Die Verbreitung von Covid-19 beginnt, bevor es Symptome gibt. Das war zum Beispiel bei dem Erreger von SARS-1 im Jahr 2003 nicht so, was das Erkennen von Infektionsketten damals leichter machte.
Was meinen Sie zum Exit?
Stich: Ich halte es für gefährlich, die in den vergangenen Wochen erreichten Erfolge durch zu schnelle Lockerungen aufs Spiel zu setzen. Als Mediziner möchte ich keinen Anstieg der Fallzahlen riskieren, was Menschenleben kosten und das Gesundheitssystem überlasten könnte. Auf der anderen Seite sehe ich natürlich die wirtschaftlichen und sozialen Probleme. Man muss auf Sicht fahren. Das Problem ist, dass man die Konsequenz einer falschen Entscheidung frühestens in zehn bis 20 Tagen so richtig wahrnehmen würde. Solange dauert es, bis jetzt Infizierte als Fälle in der Statistik auftauchen.
Lichtblicke scheint es bei der Behandlung zu geben. Vergangene Woche wurde bekannt, dass das Medikament Remdesivir die Vermehrung von Coronaviren stoppen kann. Ist das der Durchbruch?
Stich: Mittel, die das Virus bekämpfen, sind die eine Chance. Die andere ist, dass wir auf den Intensivstationen gerade immens bei der Behandlung der Symptome Schwerkranker dazu lernen. Das sind neben der Entzündung der Lunge auch die anderer Organe. Verursacht werden diese durch die überschießende Reaktion des körpereigenen Immunsystems. Deshalb werden manche Patienten trotz künstlicher Beatmung nicht gesund. Inzwischen gibt es Medikamente, die diese Entzündungsreaktionen bremsen und Leben retten können.
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Weltweit kämpfen Ärzte um das Leben von Coronakranken. Tauschen sie sich aus?
Stich: Der internationale Austausch ist riesig. Zum einen werden wissenschaftliche Erkenntnisse zu Covid-19 sehr schnell publiziert. Zum anderen sprechen Mediziner und Forscher in direkten Konferenzschaltungen miteinander. Da passiert gerade unglaublich viel.
Sie klingen richtig begeistert.
Stich: Ja, mich freut es zu sehen, wie großzügig die Kollegen ihr Wissen weitergeben. Sie verzichten dabei auch auf eigene Vorteile, zum Beispiel auf Patente und wirtschaftlichen Profit. Denn im Wissenschaftsbetrieb kommt man normalerweise voran, wenn man seine Erkenntnisse selbst weiterentwickelt und nicht, wenn man diese frühzeitig mit anderen teilt.
Im Moment sind Wissenschaftler so gefragt wie selten. Finden Sie es gut, wenn Kollegen wie Christian Drosten, Leiter der Virologie der Berliner Charité, zu Popstars werden?
Stich: Ich kenne Christian Drosten persönlich. Er hat große Kompetenz auf seinem Fachgebiet, aber ist privat ein bescheidener Mensch. Und er hat in der Coronaforschung großzügig gehandelt. So wurde eine von der Charité entwickelte Methode, Covid-19-Viren schnell nachzuweisen, nicht nach einem langwierigen Patentverfahren, sondern sofort allen Laboren zur Verfügung gestellt.
Wie ist die Situation in den Kliniken in Unterfranken momentan?
Stich: Aufgrund der Ausgangsbeschränkungen ist die Anzahl der Covid-19-Patienten gesunken, so dass Kliniken die ersten der aufgeschobenen Operationen wieder durchführen können. Das ist nötig für die Patienten, aber auch, um laufende Kosten wieder decken zu können. In den vergangenen Wochen sind in den Krankenhäusern ja Millionen Euro an Verlusten entstanden. Aber man konnte auch zeigen, wie schnell die Kliniken ihren Betrieb auf eine Katastrophenlage umstellen können.
Glauben Sie, dass das nochmal nötig sein wird?
Stich: Wenn sich die Menschen in den nächsten Wochen und Monaten nicht ausreichend an Abstands- und Hygieneregeln halten sollten, könnte im Herbst eine zweiten Welle kommen.
Als Tropenmediziner haben Sie auch den Kontakt in Entwicklungsländer. Was erfahren Sie von dort?
Stich: Wir haben staatliche Schutzschirme, Entwicklungsländer nicht. Wenn ein Tagelöhner in Indien nicht aus seiner Hütte darf, kann es sein, dass seine Familie verhungert. Das müssen wir uns bewusst machen. Ich habe volles Verständnis für die Nöte zum Beispiel in der Gastronomie oder von Eltern, deren Kinder längst wieder in Kitas und Schulen sollten. Aber es geht dabei nicht um die Frage des Überlebens, in armen Ländern aber schon. Covid-19 ist eine weltumspannende Seuche, der wir mit globaler Solidarität begegnen sollten.