"Deutschland leidet am Verletzlichkeitsparadox", sagt Hildegund Keul, Professorin für katholische Theologie an der Universität Würzburg. Was sie meint: Je mehr eine Gesellschaft abgesichert ist und je besser ihre Lebensumstände dadurch sind, desto verwundbarer wird sie im Schadensfall. In der Corona-Pandemie wirke sich dieses Paradox besonders stark aus.
Die 60-jährige Religionswissenschaftlerin und Germanistin forscht in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt interdisziplinär über die Verwundbarkeit von Menschen und Gesellschaften. Im Gespräch erklärt Hildegund Keul, warum das Verletzlichkeitsparadox auch große sozialpsychologische Folgen hat.

Als vor einem Jahr alles anfing – war Ihnen klar, dass das Coronavirus für Sie so ein großes Thema werden wird? Als Teil Ihrer Forschung?
Prof. Hildegund Keul: Ja, schon. Dass im Kern, in der Mitte dieser Pandemie die Vulnerabilität steckt, das habe ich schnell verstanden. Sie durchdringt ja wirklich alle Bereiche. Was ich so nicht erwartet hatte: Wie groß der Sog dieser Pandemie ist, wie groß auch die Verwerfungen im gesellschaftlichen und politischen Kontext werden. Die ganzen Turbulenzen und Debatten, die damit verbunden sind. Diese Wucht, mit der das anhält, ist schon überraschend. Es gibt seit einem Jahr keinen Tag, an dem man nicht mit Corona befasst ist. Ich nenne das die unerhörte Macht der Vulnerabilität. In der Pandemie merkt man sie ganz deutlich. Es ist eine unerhörte Macht.
Wann ist Ihnen denn dann diese Wucht bewusst geworden?
Keul: Auf den Begriff bringen konnte ich sie erst vor kurzem. Der französische Philosoph Michel Foucault hat eine Theorie über Dispositive der Macht entwickelt. Also über „Vorentscheidungen“, die unser Denken und Handeln bestimmen und alle Bereiche, alle Themen der Wissenschaft, alle politischen Institutionen und sozialen Interaktionen bestimmen. Vor ein paar Wochen kam mir die Erkenntnis: Vulnerabilität ist ein neues Dispositiv der Macht. Foucault sagt auch: Ein neues Dispositiv entsteht durch einen Notstand in der Gesellschaft. Das passt haargenau.
"Durch die Pandemie werden wir als einzelne Menschen, als Gesellschaft in unserer Verwundbarkeit bloßgelegt."
Theologieprofessorin Hildegund Keul
Dieses Besondere, dass einfach jeder betroffen ist, egal woher er kommt und wie seine Lebenssituation ist – ist das eine neue „Qualität“ der Verwundbarkeit, Verletzlichkeit?
Keul: Durch die Pandemie werden wir als einzelne Menschen, als Gesellschaft, mit allem was wir sind, in unserer Verwundbarkeit bloßgelegt. Das ist der Punkt, der uns dabei so trifft. Auch in allen Institutionen: Die Ministerien, die Gesundheitsämter, die Behörden, die Friedhöfe und Kreamtorien – alle sind bloßgelegt. Damit kommen wir schlecht zurecht.
Vor März 2020, vor Corona – wo war bis dato unsere Verletzlichkeit als Gesellschaft denn am größten?
Keul: Ein wichtiger politischer Punkt waren die Terroranschläge ab 2015. Da gab es ein ähnliches Phänomen, wenngleich nicht mit dieser langfristigen Wucht. In den Tagen nach einem Anschlag, angefangen beim Schlüsselmoment Charlie Hebdo, waren alle sehr aufgewühlt, da ging es auch in der Straßenbahn um unsere Vulnerabilität. Aber die Vulnrabilität hat eine dunkle Seite, die Gewaltsamkeit. Die ist derzeit am stärksten bei der Migration. Weil wir in den Modus der Migrationsabwehr gegangen sind: Wir schieben die Vulnerabilität auf eine andere Gruppe ab und setzen sie der Verwundbarkeit aus. Wir tun an den Grenzen Europas, in den Flüchtlingslagern, den Menschen Gewalt an.
In und wegen der Pandemie?
Keul: Ja. Die Flüchtlingslager wurden abgesperrt, um eine komplette Quarantäne zu verhängen. Das hat die Situation der Menschen erheblich verschlimmert. Es ist genau der Punkt: Wir möchten uns schützen – und machen das auf Kosten anderer. Die Geflüchteten haben noch weniger zu essen, noch weniger medizinische Versorgung, abgebrochene Kontakte - wirklich furchtbar. Das Wort Schutz hört sich im Deutschen immer sehr positiv an. Schutz ist etwas Gutes, das stimmt. Aber man muss schauen, welche Machtwirkungen haben auch Schutzstrategien? Oft richten sie sich gegen andere. Darauf muss die Politik achten. Die Menschenrechte sind schlichtweg zu wahren.

Und innerhalb unserer eigenen Gesellschaft? Wer wird da durch Maßnahmen verletzt? Auf wessen Kosten geht der Schutz?
Keul: Darüber bräuchten wir eine viel offenere und ehrlichere Debatte. Schutzstrategien haben immer auch andere Wirkungen, als man anzielt. „Nebenwirkungen“ wäre als Ausdruck dafür zu harmlos. Schulen zu schließen zum Beispiel – das ist ein sehr massiver Eingriff. Ich bin für große Vorsicht. Zugleich muss man die Auswirkungen sehen und proaktiv dagegen angehen. Oder der ganze Bereich Kultur, Kunst! Man müsste viel offener darüber reden, dass die Gesellschaft von bestimmten Gruppen größere Opfer verlangt. Opfer sind in einer so gefährlichen Situation notwendig. Aber was bekommen diese Gruppen zurück? Wie entschädigt man diejenigen, die besonders schwere Opfer bringen? Sie sind keine Bittsteller, sondern haben ein Recht auf Entschädigung.
"Je abgesicherter eine Gesellschaft, desto höher die Zerstörung, wenn die Sicherung nicht funktioniert."
Professorin Hildegund Keul über das Verletzlichkeitsparadox
Was macht die Politik richtig? Was macht sie immer noch falsch nach einem Jahr?
Keul: Also die derzeitigen Klagen und das ganze Gejammere, dass alles so langsam geht, dass man mit den Impfungen nicht schnell genug vorankommt - da ist doch sehr relativ, oder? Wir leiden am Verletzlichkeitsparadox.
Das Verletzlichkeitsparadox – das müssen Sie bitte erklären.
Keul: Das Verletzlichkeitsparadox bedeutet, dass der Versuch, Verwundbarkeit zu reduzieren, im Schadensfall zu ihrer Erhöhung führt. Schlimmstenfalls exponentiell. Die Machtwirkungen verlaufen plötzlich nicht mehr in die beabsichtige Richtung – sondern in die entgegengesetzte. Das Paradox ist: Je abgesicherter eine Gesellschaft, desto höher die Zerstörung, wenn die Sicherung nicht funktioniert. Beim Strom wird das sehr deutlich: Die Stromversorgung braucht man mittlerweile für alles. Handy, Kommunikation, Wasserantrieb, Heizung . . . Wenn Strom ausfällt, kann das sehr schnell zu extremen Situationen bis hin zu katastrophalen Zuständen führen. Das Verletzlichkeitsparadox zerstört den alten Traum der Menschheit, durch bestimmte Schutzstrategien unverwundbar zu werden.
Und Corona hat das offenbart.
Keul: Genau: Je besser man ein System schützt, desto höher ist die Verwundung im Schadensfall. Pandemien gibt es ja überhaupt erst, seit die Menschheit global eng vernetzt ist. Davor gab es Epidemien, zwar oft mit Hundertausenden Toten, aber regional begrenzt. Die erste weltweite Verbreitung gelang 1889/90 dem Influenza-Virus. Und die „Spanische Grippe“ wurde durch die globale militärische Mobilität des Ersten Weltkriegs so wirksam. Seit wir so vernetzt sind, ist der Schadensfall global - und potenziert. Deshalb braucht es jetzt so große, ebenfalls globale Anstrengungen, um die destruktiven Machtwirkungen der Pandemie einzudämmen. Durch Impfstoffe zum Beispiel. Wir spüren unsere Verletzlichkeit. Wir sind gewohnt, dass uns nichts passiert. Wir erwarten und haben den Anspruch, geschützt zu sein. Aber die Pandemie richtet sich nicht danach.
Stichwort Anspruch! Wir wollen Schutz – aber bitte nicht auf Kosten der eigenen Freiheit?
Keul: Die Problematik verschärft sich, weil das Verletzlichkeitsparadox auch sozialpsychologische Folgen hat: In gut gesicherten Gesellschaften steigt nicht nur der Anspruch. Gleichzeitig sinkt die Bereitschaft, selbst aktiv zu werden und an der Bewältigung der Krise mitzuwirken. Zu einer gewissen Mitwirkung ist man bereit, ja. Aber letztlich hält man den Staat für zuständig. Die Regierung, das Parlament, die Wissenschaften sollen das Problem nach einem Jahr endlich in den Griff kriegen. Wir haben keine Geduld mehr. Wir wollen endlich wissen, wann wir zur Normalität zurückkehren können. Die Fehlertoleranz der Politik gegenüber sinkt unter den Nullpunkt. Die neueste Machtwirkung des Paradoxes: das Impfen.

Paradox weil?
Keul: Menschen lassen Impftermine sausen, weil sie Vorbehalte gegen den Impfstoff von Astrazeneca hegen. Ein hoch wirksames Serum, kann schnell unter einfachen Bedingungen verimpft werden, offensichtlich gut verträglich. Aber das Beste ist für uns nicht gut genug, weil es eventuell noch ein Allerbestes geben könnte? Man bleibt lieber der Ansteckungsgefahr ausgesetzt und hofft auf einen hundertprozentigen Schutz, weil ein niedrigerer Schutz nicht ausreicht – wir leben schließlich in einer Sicherheitsgesellschaft. Besonders perfide finde ich die Idee, prophylaktisch ein drittes Mal zu impfen.
Weil es keine medizinische Notwendigkeit gibt? Weil es auch überhöhtes Anspruchsdenken ist?
Keul: Eine dritte Impfwelle, die ohne medizinische Notwendigkeit geschieht, würde Millionen Menschen aus anderen Ländern, die weniger impfprivilegiert sind, noch mehr Impfstoff entziehen. Die, die den Impfstoff am dringendsten brauchen, würden ihn nicht bekommen. Zur Verfügung gestellt würde er denen, die bereits geschützt sind. Dieses Paradox könnte für viele Menschen tödlich ausgehen.
"Nach der Missbrauchs- und Vertuschungskatastrophe finde ich es gar nicht so schlecht, wenn die Kirchen mal nicht so laut sind."
Theologin Hildegund Keul über die Haltung der Kirchen in der Pandemie
Was wäre besser?
Keul: Mehr Wertschätzung der Schutzstrategien, die uns so selbstverständlich zur Verfügung stehen. Wenn ich persönlich in die Falle des Verletzlichkeitsparadoxes tappe, und auch mir passiert das in der Pandemie häufiger, dann führe ich mir vor Augen, wie unglaublich gut die Schutzstrategien in Europa und speziell in Deutschland wirken. Noch 2012 errechnete eine Risikoanalyse, dass es im Falle einer Sars-Pandemie erst drei Jahre nach den ersten Erkrankungen einen Impfstoff geben würde. 2020 hat es nur ein Jahr gedauert. Welch ein Glück!
Sie sprachen zu Beginn von den Turbulenzen . . .
Keul: Die Turbulenzen und Verwerfungen in der Politik können noch viel stärker werden in diesem Jahr, weil es auf Wahlen zugeht. Die Verwundbarkeit wird in Bezug auf die Bundestagswahl zu einem Hype-Thema werden. Ich befürchte, dass einige versuchen, parteipolitisch daraus Profit zu schlagen. Die Empörungsrhetorik ist enorm, und viele heißgeführte Debatten sind nach einer Woche schon hinfällig. Das, vermute ich, wird bis zur Wahl noch viel dynamischer werden. In diesem hochprekären Feld müssen wir alle dazu beitragen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht verloren geht.
Die Frage an die Theologin: Wie werten Sie die Rolle der Kirchen in der Pandemie? Waren die Kirchen nicht viel zu leise und zu zurückhaltend im vergangenen Jahr?
Keul: Erst mal generell gesehen: Nach der Missbrauchs- und Vertuschungskatastrophe finde ich es gar nicht so schlecht, wenn die Kirchen mal nicht so laut sind und mit dem Finger auf andere zeigen. Auch sie sind herausgefordert, einen anderen Umgang mit Verwundbarkeit zu praktizieren. Auf diesem Gebiet tut sich im Moment viel. Es hat ein bisschen gedauert, aber viele Menschen, die in der Pastoral tätig sind, merken, dass sich Kirche hier anders positionieren muss und auch kann. Die Kirchen waren auf das Thema Vulnerabilität nicht so vorbereitet, wie ich mir das erhofft hätte, das stimmt schon. Aber ich bin zuversichtlich, dass sich das ändern wird.
Das heißt . . .
Keul: Nicht über die verwundbaren Gruppen hinweg Politik machen! Und diejenigen, die die schwersten Opfer bringen, entschädigen. Die gesellschaftliche Frage ist ja: Treibt die Pandemie uns auseinder oder bringt sie uns zusammen? Die christliche Antwort ist klar: Entscheidend ist, dass man sich zusammenfindet. Wir sind in unserer Verwundbarkeit miteinander verbunden. Darauf müssen wir setzen. Gerade weil Menschen hart getroffen sind, sollten wir uns darauf konzentrieren, die destruktiven Wirkungen der Pandemie gemeinsam zu bewältigen.
Prof. Hildegund Keul lehrt seit 2009 an der Universität Würzburg Fundamentaltheologie und Vergleichende Religionswissenschaft. Ein Schwerpunkt ihrer Forschungsind der Vulnerabilitätsdiskurs und die Machtwirkungen der Verwundbarkeit in persönlichen und politischen, sozialen und kulturellen Kontexten, nicht zuletzt im religiösen Leben. Seit 2016 leitet sie in Würzburg die interdisziplinäre Forschungsgruppe „Vulnerabilität, Sicherheit und Resilienz“, seit 2018 arbeitet sie am DFG-geförderten Forschungsprojekt "Verwundbarkeiten. Eine Heterologie der Inkarnation im Vulnerabilitätsdiskurs". Von 2004 bis 2018 war Keul Leiterin der Arbeitsstelle für Frauenseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz in Bonn und Düsseldorf.
Buchtipp: "Verwundbar. Theologische und humanwissenschaftliche Perspektiven zur menschlichen Vulnerabilität", Echter Verlag, Würzburg 2020,