Egal, aus welcher Richtung man sich nähert: Ein Hingucker ist Sulzheim nun wirklich nicht. Die Gegend in den Ausläufern des flachen Schweinfurter Beckens Richtung Steigerwald ist unspektakulär, das Dorf ebenfalls. Doch die Unscheinbarkeit steht auf einem ganz besonderen Boden: Gips.
Hört man dieses Wort, denkt man in Mainfranken unweigerlich an Knauf im gut 30 Kilometer von Sulzheim entfernten Iphofen. Doch mit dem riesigen Weltkonzern hat zum Beispiel Helmut Weiß überhaupt nichts zu tun. Er leitet seit 2001 den größten Arbeitgeber in Sulzheim, das Gipswerk. Es gehört seit zehn Jahren zur nordthüringischen Firmengruppe Casea, die wiederum Teil von Remondis ist, einem in Deutschland führenden Recycling-Konzern.

Knauf ist für Weiß kein Konkurrent: Die Iphofener setzten auf die großen Margen für die Baubranche in aller Welt, sagt er. Sein Werk hingegen liefere in erster Linie Spezialgips für Nischenmärkte, die für Knauf wegen der geringeren Mengen uninteressant seien.
Helmut Weiß ist ein echter "Gipskopf" geworden, wie die Sulzheimer gerne liebevoll-spöttisch genannt werden. Der gebürtige Oberpfälzer kennt sich nicht nur in seinem Werk, sondern auch in Sulzheims Untergrund gut aus. "Wir sitzen komplett auf Gips", sagt Weiß und meint damit die Tatsache, dass der Ort und seine Umgebung auf einer bis zu zwölf Meter dicken Gipsschicht ruhen.

Sie ist so mächtig, dass sich Weiß um die Zukunft des Abbaus und damit um die Zukunft des Ortes keine Sorgen macht: Schätzungen gehen davon aus, dass in Sulzheim noch in den nächsten 250 Jahren Gips aus dem Boden geholt werden kann.
Das ist wie ein Versprechen für weiter gute Geschäfte: Weiß zufolge macht das Sulzheimer Werk pro Jahr mit seinen 1500 Kunden einen zweistelligen Millionen-Umsatz. "Wir haben 500 eigene Rezepte", beschreibt der Werksleiter die Palette an Produkten, die mit Sulzheimer Gips hergestellt werden.
- Dentalgips für die Zahnmedizin (zum Beispiel für Abdrücke)
- Bestandteil von homöopathisch wirkenden Schüßler-Salzen
- Lebensmittel: Feiner Gips (Calciumsulfat) wird unter anderem bei der Brot-Herstellung oder in Fertiggerichten als Stabilisator verwendet, zu erkennen an der Zusatzbezeichnung "E 516"
- Gipsbinden (bei Knochenbrüchen)
- Tafelkreide in Schulen
- Tierfutter-Zusatz
- Bestandteil von Farben (unter anderem in der Kunst)
Dabei hat das Sulzheimer Werk noch Luft nach oben: Gingen bis Ende der 1980er noch jedes Jahr 60.000 Tonnen Gipsprodukte raus, wuchs diese Zahl nach der Wende und in Folge des Baubooms im Osten zeitweise auf 200.000 Tonnen. "Damals standen die Lastwagen bis in den Ort hinein", erinnert sich Weiß.
Ähnliche Zeiten können unter Umständen wiederkommen. Dann nämlich, wenn es in Deutschland keine Kraftwerke mit fossilen Brennstoffen mehr gibt. Ihre Rauchgas-Entschwefelungsanlagen liefern den künstlichen Rea-Gips, der von der Industrie wegen seiner Reinheit geschätzt wird und nach Angaben des Bundesverbandes der Gipsindustrie ungefähr die Hälfte des Gipsbedarfs in Deutschland deckt.
Doch je weniger Rea-Gips anfällt, desto mehr gewinnt Naturgips wie jener aus Sulzheim an Bedeutung. "Diesen Effekt merken wir jetzt schon", hält Werksleiter Weiß fest. Sollten alle Rauchgas-Entschwefelungsanlagen der alten Kraftwerke einmal abgeschaltet sein, dann könne das dazu führen, dass sein Betrieb wegen der riesigen Nachfrage nach Naturgips mit der Produktion nicht mehr nachkomme.
Werksleiter Helmut Weiß erklärt, was in Sulzheim mit dem aus dem nahen Steinbruch angelieferten Gestein gemacht wird. Video: Jürgen Haug-Peichl
Bis dahin lebt der Werksleiter förmlich in einer Welt aus Puderzucker: Überall in seinem Betrieb sind Wände, Maschinen, Treppen und Böden mit einer feinen, weißen Schicht aus Gipsstaub überzogen. Von montags um 6 Uhr bis samstags um 6 Uhr wird täglich in drei Schichten gearbeitet.
In einem verschachtelten und vor allem ohrenbetäubend lauten System aus Röhren, Gebläsen, Walzen, Öfen und Trommeln wird dort Gips hergestellt, dessen Körner bis zu 0,015 Millimeter klein sind. Überhaupt bietet das Werk einige Superlative: Die Kugeln in den Mahlwerken haben zum Teil einen Durchmesser von einem Meter. Und stattliche 12,5 Millionen Liter Wasser sind es, die beim Brennen des Gipses anfallen.
Nicht alle im Werk verarbeiteten Gipsbrocken kommen aus dem örtlichen Steinbruch. Ein Drittel wird laut Weiß aus der Gegend um Bad Windsheim nach Sulzheim transportiert. Das ist der Tatsache geschuldet, dass sich im Untergrund die Gips-/Anhydrit-Ader von Mittelfranken bis an den Main bei Haßfurt und weiter Richtung Bad Königshofen zieht.
Kräftig rütteln, sieben, mahlen und walzen: Das Video blickt in die Gips-Produktion im Sulzheimer Werk. 120.000 Tonnen Gips wird dort pro Jahr verarbeitet. Video: Jürgen Haug-Peichl
Entstanden ist diese Schicht vor 230 Millionen Jahren, als sich in der Gegend Becken mit salzigem Meerwasser bildeten. Nachdem das Wasser verdampft war, blieb das Anhydrit als Schwester des Gipses übrig. Das Sulzheimer Gestein gilt als besonders wertvoll: Sein Gipsgehalt liegt bei bis zu 95 Prozent. Ab 70 Prozent lohne sich der Abbau, hat Historiker Oswald Volk vom Historischen Arbeitskreis in Sulzheim in einer Niederschrift festgehalten.
Das Gipswerk bewegt sich in einem aufstrebenden Markt: So ist die Produktion von Gipserzeugnissen in Deutschland zwischen 2011 und 2018 um gut 20 Prozent gewachsen. Bis 2023 wird ein weiterer Zuwachs um zwölf Prozent im Vergleich zu heute erwartet. Auch die Herstellung von gebranntem Gips als Rohstoff für verschiedene Produkte hat in den vergangenen fünf Jahren in Deutschland permanent zugenommen.

Die Anfänge des Sulzheimer Gipswerks reichen ins Jahr 1948 zurück, als in der Region der industrielle Gipsabbau begann. Damals stand das Werk noch an einer anderen Stelle, bevor 1980 der Gebäudekomplex von heute errichtet wurde. Nicht überraschend, dass das Unternehmen nach den Worten von Bürgermeister Jürgen Franz Schwab heute Sulzheims bedeutendster Gewerbesteuerzahler ist.

Doch die Gipswerke haben eine weitere Hauptrolle: Mit 180 Hektar gehören sie wohl zu den größten Grundbesitzern der Gegend. Sieben Prozent der Gemeindefläche sind somit im Eigentum des Betriebs mit seinen 45 Mitarbeitern.
All das Land dient zur Sicherung des Abbaus. War der Steinbruch in der Anfangszeit noch direkt am Nordrand von Sulzheim, ist er in den vergangenen Jahrzehnten nach Nordwesten Richtung Grettstadt gewandert. Gingen die Gipsvorräte an einer Stelle zu Ende, wurde einfach nebenan ein neuer Steinbruch aufgemacht. Der aufgelassene wurde mit fruchtbarer Erde verfüllt.
Ein Segen für die Landwirte, meint Oswald Volk. "Der Boden wurde dadurch besser." Das bestätigt Werksleiter Weiß: Weil dicht unter der Erdoberfläche gleich die Gipsschichten liegen, "konnten die Leute früher auf den Äckern kaum Kartoffeln anbauen". In Folge der Rekultivierung der aufgelassenen Steinbrüche ist das Sulzheimer Gipswerk sozusagen "der größte Landwirt hier". Freilich zeigt sich beim Blick aus der Luft, dass der aktuell 17 Hektar große Steinbruch auch eine riesige Wunde in der Landschaft ist.
Neben zwei Arbeitern des Gipswerkes ist dort auch Sprengmeister Michael Merkle aus dem schwäbischen Biberach regelmäßig zu Gange. Sein Unternehmen hat seit vielen Jahren den Auftrag, bis zu viermal pro Woche das Erdreich nach strengen Sicherheitskriterien in die Luft zu jagen.
Eine Spezialfirma aus Baden-Württemberg ist im Gipssteinbruch am Rand von Sulzheim für die Sprengungen zuständig. Für die Sprengkörper werden in genau festgelegten Abständen Löcher ins Gestein gebohrt. Bei der Sprengung selbst waren Aufnahmen nicht zulässig. Video: Jürgen Haug-Peichl
Das tut Merkle in Blöcken mit den Maßen 25 mal 5,5 mal 5 Meter. Dieses durch die Sprengung gelockerte Erdreich wird danach von Baggern abgetragen und von Lastwagen ins Gipswerk gebracht, wo es laut Leiter Weiß dann für eine halbe Woche als Vorrat reicht.
Wie Weiß ist auch Oskar Volk eng mit Gips verbunden. Schon als Kind hatte er in den Steinbrüchen von Sulzheim gespielt. Der 66 Jahre alte Dorfhistoriker kann in seinem Heimatort noch etwa 20 alte Häusern zeigen, die mit Gipsgestein gebaut wurden. Früher sei dieses Material gang und gäbe gewesen, erzählt er.
Der Gips im Untergrund hat freilich dazu geführt, dass rund um Sulzheim schon mal der Boden einbricht. Der Grund: Ins Erdreich eindringendes Wasser spült Gips aus und hinterlässt kleine Höhlen, die dem Druck von oben irgendwann nicht mehr standhalten können.
Das hat andernorts schon zu massiven Problemen geführt: 2002 und 2006 klafften im Würzburger Stadtteil Sanderau plötzlich metertiefe Löcher auf Gehwegen und Straßen. 2014 musste im benachbarten Randersacker ein Haus abgerissen werden, weil es auf unsicherem Grund einsturzgefährdet geworden war. In allen Fällen wurde ausgespülter Gips als Ursache ermittelt.
Für Sulzheim sieht Historiker Volk diese Gefahr nicht, weil unter der Bebauung "kein Fließwasser" sei. Gutachten von Fachleuten gebe es dazu freilich nicht, gestehen Volk und Bürgermeister Schwab ein. Insofern bleibt offen, ob unter so manchem Haus eine Zeitbombe tickt. Unter den Sulzheimern sei das aber kein Thema, wollen Volk und Schwab beobachtet haben.
Warum der Gips für Sulzheim auch ein touristischer Faktor ist
So oder so sehen die beiden den Gips nicht als Gefahr, sondern als Segen an. Schon deshalb, weil er eine über den Ort hinaus bekannte Sehenswürdigkeit geschaffen hat: die Sulzheimer Gipshügel. Das gut acht Hektar große Naturschutzgebiet liegt etwa einen Kilometer außerhalb des Dorfes. Auf dem welligen Gelände wachsen im Frühjahr zum Teil seltene Pflanzen wie Adonisröschen, Küchenschelle und Traubenhyazinthe.
Kein Wunder, dass deswegen schon mal der eine oder andere Tourist Gast der Sulzheimer Gastronomie wird, wie Bürgermeister Schwab beobachtet hat. Dazu trägt auch eine andere wichtige Adresse bei: das Gips-Informationszentrum. Bis zu 1000 Besucher kommen pro Jahr in die umgebaute Zehntscheune aus dem 17. Jahrhundert.
Eine stolze Zahl für ein Dorf, das gerade mal 800 Einwohner hat. Überhaupt sollte Sulzheim nicht unterschätzt werden: mehrere Ärzte, eine Apotheke, eine Schule samt Kindergarten, ein Schloss und ein Hotel - ganz schön viel Infrastruktur für einen Ort mit dieser Überschaubarkeit. Und irgendwie hängt alles mit Gips zusammen. Mal mehr, mal weniger.




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