Allen, die auch nur leise gezweifelt hatten, half Hallensprecher Manfred Markert beim Entrée auf die Sprünge. „Wer hat Kerm?“, fragte er das Publikum auf den Rängen im Sickergrund, und aus einigen Dutzend Kehlen bekam er das dreifach donnernde Echo. „Mir ham Kerm!“ Als Stefanie Placht eineinhalb Stunden später Rede und Antwort stand, wirkte sie so zerzaust und aufgewühlt, als habe sie im Vergnügungspark der Etwashäuser gerade eine schwindelerregende Fahrt in der Achterbahn hinter sich gebracht. „Die kosten mich meine letzten Nerven“, sagte die 58 Jahre alte Trainerin nach einer atemraubenden Partie, die allen Beteiligten wie eine Woche vorher kaum Zeit zum Durchschnaufen gelassen hatte. Dass es am Samstag erneut ihre Mannschaft war, die beim 20:18 gegen den 1. FC Nürnberg die gelungene Schlusspointe gesetzt und mithin den zweiten Saisonsieg gelandet hatte, mag Placht in ihrem Urteil zur Nachsicht verholfen haben. Mildernde Umstände räumte sie der Gar- de ihrer jungen Wilden ein. „Ein bisschen Spannung muss auch sein. Ich kann nicht verlangen, dass sie jedes Mal mit zehn Toren Unterschied gewinnen.“ Aber irgendwo hat der Nervenkitzel Grenzen. „Ich muss die Mädels auch in die Plicht nehmen, dass sie konzentrierter arbeiten und kaltschnäuziger werden“, sagt die Trainerin. „Bei so einem Zwerg im Tor muss ich die Bälle auch einmal hoch reinhauen.“
Wer sich am Samstag unters Publikum gemischt hatte, ging im Gefühl nach Hause, gut unterhalten worden zu sein – weniger von Genialität oder Geistesblitzen, sondern eher vom ungestümen Sturm und Drang, von der Unbedarftheit und auch Naivität der Protagonistinnen, die sich dramaturgisch geschickt bis zum letzten Atemzug Zeit ließen mit der Lösung in diesem Dramolett. Dass dem Betrachter niemals langweilig wurde, war zuvorderst der unglaublich hohen Fehlerquote beider Mannschaften geschuldet; dem zuweilen verzweifelten Versuch, mit dem Ball ins Ziel zu treffen, und der schicksalhaften Erkenntnis, dass er doch wieder nur gegen diesen verflixten Pfosten oder gegen die vermaledeite Latte titscht. In jenes Leid, das Placht für Etwashausen beklagte, hätten zu Recht auch die Nürnbergerinnen einstimmen können, die von Mitte bis Ende der ersten Halbzeit gut und gern ein halbes Dutzend Mal das Aluminium scheppern ließen. Nicht mehr als der schicke rote Bus mit der Inschrift„Handball-Bundesliga Frauen“ zeugt von der glorreichen Ära des 1. FCN, dessen Frauen 2007 noch in der Champions League spielten und 2008 deutscher Meister wurden. Ein Jahr später folgte der Insolvenzantrag und der Neuanfang in der Bayernliga, wo der „Club“ mit einer ganz jungen Mannschaft um die Existenz kämpft. Das Team des TVE lebt weniger vom Traditionalismus, sondern mehr von seinen Perspektiven, die fürwahr verheißungsvoll sind, wenn die von der ehemaligen Bundesliga-Torschützenkönigin Placht geformte Mannschaft erst einmal ihr ganzes Potenzial ausbreitet.
Noch ist das Team in der Selbstfindungsphase, noch darf es sich Blößen erlauben wie am Samstag, als wieder einmal nur vierzig Prozent der Würfe ihr Ziel fanden. Wer zur Halbzeit über die Verkettung von Fehlern und Fehlpässen lamentiert hatte, wurde in der zweiten Hälfte noch über die Grenze des Kalküls hinausgeführt. Die Etwashäuserinnen wirkten so aufgekratzt, als hätten sie in der Pause mit Adrenalin gegurgelt. Selbst ein Vorsprung mit drei oder vier Toren (10:7, 14:10, 17:14) konnte nicht dazu beitragen, die Nerven zu beruhigen und Sicherheit ins eigene Spiel zu bringen. Zwei Lichtblicke hatte Placht in der spielerischen Finsternis entdeckt: Torhüterin Daniela Frank, die seit Beginn der Saison die eigentliche Konstante des TVE-Spiels ist, und die in der Abwehr so zupackende Isabella Renner, der es in der Offensive gegen die einen Kopf größere Silvia Szücs gleichwohl ungemütlich vorkommen musste und die am Kreis zu rotieren begann. Was den Angriff anging, blieb die Vorstellung der Etwashäuserinnen erneut diffus. So unbekümmert etwa die 18-Jährige Laura Knorz als linker Außen auftrat, so schwerfällig muteten die Versuche im Rückraum an. Melanie Meyer erzielte vier Tore und hatte sechs Fehlwürfe, Ulla Brehm gelangen drei Tore bei zehn vergeblichen Versuchen. So kamen am Ende „wieder nur zwanzig Treffer“ heraus, wie Placht kritisierte. „Das ist eindeutig zu wenig.“ Hallensprecher Markert hatte die frohe Botschaft schon vor dem Anpfiff verkündet: Der TSV Vaterstetten hat Freitag sein Team vom Spielbetrieb abgemeldet und steht somit als erster Absteiger fest. Etwashausen: Daniela Frank, Julia Hebling; Isabella Renner (3), Julia Meyer (1), Carolin Straßberger, Ricarda Suciu (2), Jelena Roganovic, Ulla Brehm (3), Janina Ruschin (3/3), Laura Knorz (4), Anna-Maria Renner, Melanie Meyer (4). Nürnberg: Lydia Wagner, Michaela Müller; Alexandra Kitza (1), Miriam Schulz (1), Sara Wolf, Julia Schopka, Elena Tischner, Larissa Knapp (1), Laura Pisu (4), Kathrin Hauke (2), Eva Kostovski (5/1), Stefanie Höcht (2), Silvia Szücs (2). Schiedsrichter: Ulrich Binneweiß (DJK Rimpar) und Kurt Weschenfelder (TG 48 Würzburg). Zeitstrafen: Julia Meyer, Knorz; 2x Szücs, 2x Kitza, Pisu, Höcht. Zuschauer: 130 (geschätzt). Siebenmeter: 3:3 (3:1 verwandelt). Spielfilm: 0:1 (2.), 3:1 (7.), 7:2 (15.), 10:6 (Pause); 10:9 (37.), 14:10 (42.), 17:16 (52.), 20:18.