Die Sache musste längst gelaufen sein, aber wo blieb das verdammte Fax? Ewald Baumüller wurde langsam nervös. Er saß auf dieser einsamen Karibikinsel fest, rund zehn Flugstunden von Deutschland entfernt, und wartete auf Nachricht. Kein Internet, kein Handy, in Kitzingen hätte im April 1990 der Falterturm einstürzen können – Baumüller hätte es nicht erfahren. Er hatte alles geklärt vor seinem Abflug nach Antigua. Und dann hing alles an einem Fax. Einem lächerlichen Blatt Papier, einem Wort: Ja oder Nein. War die Sache schiefgegangen? Ließ deshalb niemand etwas von sich hören? Baumüller hätte auch ein Nein akzeptiert, irgendwie. Doch all die Zweifel, die wachsende Ungewissheit, sie nagten an ihm wie einst die Ratten an den Zuckerrohrstängeln der Plantagen. Dann, Tage später, trat ein freundlicher Kellner an seinen Tisch im Hotel, in der Hand ein Blatt Papier. Es standen nur zwei Buchstaben darauf: Ja! Baumüller wusste: Die Handballer der TG Kitzingen, seine „Jungs“, hatten es geschafft. Sie waren mit Pauken und Trompeten in die bayerische Oberliga eingezogen. Von nun an konnte er sich wieder ganz seiner Frau widmen. Der Trip in die Karibik war ihre Hochzeitsreise.
Ewald Baumüller muss lachen, wenn er die Geschichte heute erzählt. „Du bist doch bald durchgedreht“, ruft ihm seine Frau Christine aus der Küche zu. Schon das erste der beiden Aufstiegsspiele acht Tage zuvor hatte ihn auf eine harte Probe gestellt. Es fand am Tag seiner Hochzeit statt. Mit einer List war es ihm gelungen, wenigstens einen Teil der Partie zu sehen. Seinen Freunden hatte er aufgetragen, die Brautentführung in der TGK-Halle enden zu lassen. Sie taten ihm den Gefallen, aber als er in der Halle ankam, war seine Braut schon wieder weg und das Spiel in vollem Gang. Er blieb, Kitzingen gewann: 21:16 gegen Burgau. Seine Frau wusste ja, worauf sie sich einließ. Sie kannte ihre Nebenbuhler – alles anständige, brave Jungs. „Meine Jungs“, so Baumüller noch heute.
Als sie ihm mit Wunderkerzen in den Händen vor dem Spiel einst Happy Birthday sangen, war er gerührt vor Glück; er, der Geburtshelfer und Förderer der Mannschaft, die vor zwanzig Jahren mit dem Sprung auf Platz zwei der Oberliga ihren Zenit erreichte und in Kitzingen fast beiläufig eine neue Szene begründete. Dass der Handball dabei bloß den Rahmen bildete für ein weit größeres Ereignis, für ein Volksfest nämlich über Generationsgrenzen hinweg, war auch Baumüller beim Blick auf die meist voll besetzten Ränge rasch klar. Die Halle im Sickergrund war in ihren besten Zeiten nicht nur Treffpunkt für Jung und Alt, sondern auch das Terminal zum Abflug in die Glückseligkeit und ins samstägliche Nachtleben; ein lokaler Circus Maximus, dessen Gladiatoren in aller Regel aus der Region kamen. „Von der Stimmung ließ sich jeder mitreißen. Das war einmalig“, sagt der frühere Torhüter Matthias Sammetinger, heute 43, dessen Brüder Thilo und Alexander damals ebenfalls im Team standen.
Ein Glücksfall namens Pasula
500, 600 Leute – manchmal auch 800 oder 1000 – pilgerten Samstagabends in die Halle. Eine solche Begeisterung hatte es lange nicht gegeben in der Stadt – und wer dieses Phänomen ergründen und verstehen wollte, musste ein Stück zurückgehen, an die Anfänge dieser Mannschaft: jung, dynamisch, erfolgreich sicherlich, aber nicht gerade dazu auserkoren, binnen vier Jahren durch Bayerns Handball-Instanzen zu marschieren. „Viel Arbeit, aber auch viel Glück“ sieht Baumüller hinter dem rapiden Aufstieg, an dem er maßgeblich mitwirkt: nicht auf dem Feld, wo er als Linkshänder eher mit „bescheidenem Talent“ gesegnet war, wie er sagt, sondern in zweiter Reihe: erst als Trainer in der Jugend, dann als Manager. Das Glück kommt in Gestalt Adrian Pasulas. Baumüller kennt den Rumänen als ausgewiesenen Handball-Experten, aber als er ihn von der TG Heidingsfeld weglocken und als Trainer nach Kitzingen holen will, sagt er ihm ab. Pasula hat es nicht mit dem Autofahren, der Weg nach Kitzingen ist ihm zu beschwerlich. Eines Tages steht Baumüller bei Franz Süß an der Tür, um ihn als Spieler zu gewinnen. Die beiden kommen ins Reden, und irgendwann in diesem Gespräch fällt Pasulas Name. „Adi Pasula?“, fragt Süß. Es ist sein bester Freund. Im Sommer 1986 kommt nicht nur Süß nach Kitzingen – auch Pasula sagt zu, nachdem er die verheißungsvolle A-Jugend der TGK gesehen hat: Spieler wie Thilo Sammetinger, Uwe Schmidt, Dirk Böhm oder Rolf Ott, die später zu den Garanten des rasanten Aufschwungs werden.
Mit dem Rumänen geht es nun jedes Jahr ein Stück weiter nach oben: in die Bezirksliga, in die Verbandsliga – und schließlich 1990 in die Oberliga. Pasula, als Spieler ein Draufgänger, als Trainer und Mensch ruhig und besonnen, hat ein Händchen – für den Ball und für die Mannschaft. „Er war eine absolute Koryphäe“, sagt Matthias Sammetinger über den etwas distanzierten, aber fachlich über jeden Zweifel erhabenen Spielertrainer. Und wenn Baumüller über dessen Wirken spricht, dann voller Respekt und Bewunderung – und mit dem subtilen Zweifel, ob der Weg der TG Kitzingen ähnlich erfolgreich gewesen wäre ohne Pasula.
Der Trainer opfert sich, zehrt sich auf, und als 1990 nach vier Jahren und drei Aufstiegen die Oberliga erreicht ist, ist in Pasula das Feuer erloschen. „Ewald, es langt!“, teilt er dem Manager zum Ende seiner Mission mit. „Er handelte tatsächlich nach dem Motto: Man soll Schluss machen, wenn es am schönsten ist“, sagt Baumüller heute. Die TGK muss sich neu aufstellen, nicht nur auf der Trainerposition. Sie holt Karl-Heinz Rost und rüstet den Kader mit Routine auf: Bernd Grocholl kommt aus der Regionalliga, Bernd Großmann vom Bayernliga-Spitzenteam HSC Bad Neustadt, Jens Ullmann aus der DDR-Oberliga. Die regionale Herkunft und die Mentalität der Spieler sind dem Klub mindestens ebenso wichtig wie deren Qualität. Da passen Großmann und Grocholl perfekt ins Raster – als Sprosse alteingesessener Handballfamilien aus dem Umkreis. Sie verstärken jenes Team, das im Kern immer noch aus der einst von Ewald Baumüller und seinem Spezi Otmar Neumaier betreuten Jugend besteht.
Mehr als 150 Geldgeber
Baumüller widmet sich in dieser Zeit längst anderen Aufgaben. Er baut Kontakte zu Sponsoren auf, pflegt sie, ist fast täglich unterwegs. Gut 150 Geldgeber unterstützen das Projekt, und Baumüller hat den Ehrgeiz, jeden einzelnen zweimal im Jahr zu besuchen, jedem einzelnen, das Gefühl zu vermitteln, wichtig zu sein. „Ohne den persönlichen Kontakt“, sagt Baumüller, „wäre es nicht gegangen.“ Bei den Auftritten im Sickergrund wandert sein Blick durch die Reihen der Zuschauer. Er schaut genau hin, wer aus der Kitzinger Geschäftswelt sich regelmäßig sehen lässt, wer sich identifiziert mit diesem Team, mit dieser Bewegung, die für viele damals schon Kult ist. Später assistieren ihm Dirk Böhm und Winfried Hesel, die Macher des „Handball-Journals“, in dem sich auf hochglanzpolierten Seiten sämtliche Werbepartner wiederfinden. „Das Umfeld hat gut gearbeitet, und man selbst“, sagt Matthias Sammetinger, „wurde mitgerissen. Viele nahmen den Handball damals zum Anlass, sich zu treffen, und davon wurden wiederum andere infiziert.“
Der Erfolg macht sexy, die Mannschaft hat ihre Fans. Etwa 1000 sind es im Winter 1991 beim Heimspiel gegen Lohr, noch einmal so viele zwei Monate später beim Auftritt gegen Milbertshofen, dem späteren Meister, hinter dem die TGK abgeschlagen Zweite wird. Zum Aufstieg reicht es nicht. Ein Jahr später spitzt sich die Dramaturgie im Titelrennen zu: Am vorletzten Spieltag kommt es zum Showdown mit Tabellenführer BSV Bayreuth. Die Kitzinger verlieren 20:21 – und verpassen abermals das große Ziel. Trainer Rost muss gehen. „Ich habe das Gefühl, sie brauchen einen Sündenbock“, sagt er. Neuer Coach wird Horia Markel, 1994 schon wieder abgelöst von Helmut Hofmann. Es ist der Beginn eines Prozesses: des über zwei Jahre schleichenden Abstieges, an dessen Ende im Mai 1995 der große Knall steht: Kitzingen hat keine Zukunft und keine Mannschaft mehr, muss in der Kreisliga ganz neu anfangen.
Pläne in der Schublade
Baumüller ist da schon nicht mehr an Bord des TGK-Schiffes. Für ihn ist 1992 Schluss, als er noch einmal Vater wird. Das hat er immer gesagt, und dabei bleibt er. Dass er auch müde ist nach zehn Jahren intensiver Arbeit für den Verein, dass er eine Pause braucht, tut ein Übriges. Den Untergang aus der Ferne zu erleben ist für ihn, der dieses Team mitaufgebaut hat, nicht weniger schmerzlich. Noch heute treibt ihn zuweilen die Frage um, was gewesen wäre, wenn . . .; wenn die Kitzinger tatsächlich die dritte Liga erreicht hätten. Die Pläne lagen in der Schublade, aber Baumüller weiß: „Es wäre problematisch geworden.“ Mehr Geld, weitere Fahrten, zusätzliches Personal. „Du hast als Verantwortlicher auch eine gewisse Angst gespürt.“
Für den TSV Rödelsee, der sich derzeit zum Sprung in die dritte Liga aufmacht, für dessen Macher Wilfried Demel, der seit Jahrzehnten die Triebfeder ist, hat Baumüller hohen Respekt – weil die Zeiten und die Rahmenbedingungen für Projekte dieser Art schwieriger geworden sind. „Das Geld der Firmen sitzt nicht mehr so locker, der Handball ist athletischer und schneller geworden“, sagt der 54-Jährige. Und: „Die TGK von damals könnte heute mit Rödelsee nicht mehr mithalten.“ Immerhin: Ihr Aufstieg würde sich vermutlich schneller verbreiten.