Neulich kletterte Lena Hofmann in München auf die Rückbank eines Autos und fuhr mit Freundinnen nach Amsterdam. Sie braucht das manchmal: raus aus dem Alltag, mal wieder ausspannen und auf andere Gedanken kommen. Lena liebt es zu reisen, fremde Städte zu erkunden, ihre kleinen und großen Geheimnisse zu entdecken.
Lange hatte sie dafür keine Zeit und keinen Blick. Stets war sie unterwegs als eine Art Handlungsreisende, nie als Touristin. Sie war in Madrid und in Tunis, in Antalya und in Dubai, auf Fuerteventura und auf Mallorca, überall dort, wo andere Urlaub machen, und nirgends konnte sie richtig abschalten. Jetzt könnte sie es – und genau das ist ihr Problem.
Lena spielt Tennis, fast seitdem sie denken kann. Wie das häufig so ist, nahmen Mutter und Schwester sie einmal mit auf den Tennisplatz – und irgendwann hatte Lena Gefallen an diesem Spiel gefunden; wann genau, lässt sich heute kaum noch ermitteln. Sie war fünf, vielleicht sechs. Nur etwas lässt sich mit Gewissheit sagen: Von diesem Tag an begann im Hause Hofmann eine spannende Zeit. Immer öfter trifft man Lena auf dem Tennisplatz. Sie reist erst durch Franken, dann durch Bayern, schließlich durch Europa und die halbe Welt.
Daheim, in einem großen Zweifamilienhaus in Marktbreit, sitzt Mutter Kerstin, sie arbeitet als Krankenschwester, mitunter auch nachts. Sie kennt die berühmten Anrufe: „Du Mama, ich hab da ein Problem.“ Dann weiß Kerstin Hofmann sofort: ein neuer Fall. Es gibt wieder Arbeit für sie.
Jahrelang geht das so. Als Lena 15 ist, zieht sie von Marktbreit nach München, um ihre Karriere als Tennisprofi zu beschleunigen. Inzwischen ist sie 24 – und der Traum, den sie schon als Mädchen hatte, könnte demnächst geplatzt sein. Seit eineinhalb Jahren kann sie wegen einer Schulterverletzung nicht mehr vernünftig Tennis spielen; vor allem der Aufschlag bereitet ihr Schmerzen und Probleme. Alle Versuche, auf den Tennisplatz zurückzukehren, auf die Bühne, die für sie die Welt bedeutet, sind seither gescheitert. Aber noch ist Lena Hofmann nicht bereit aufzugeben, denn es ist nicht bloß ein Match, das sie drangeben würde. Dies ist der Grand Slam ihres Lebens. „Da brennt noch was“, sagt sie.
Es ist das Feuer einer verzehrenden Leidenschaft in einer 24-Jährigen, die immer unterwegs und nie am Ziel schien, die nicht einen ihrer Siege über den Tag hinaus genießen konnte, und Kerstin Hofmann weiß: Wenn es eine schaffen kann, dann ihre Tochter.
Fragt man die Mutter, wie viele Poster und Trophäen erfolgreicher Tennisstars Lena früher in ihrem Zimmer hängen hatte, muss sie nicht lange überlegen mit der Antwort. „Keine. Ich kann Ihnen auch sagen, warum: Weil sie sich immer nur auf dem Tennisplatz aufhielt und nur zum Schlafen in ihrem Zimmer war.“
Alles in ihrem jungen Leben hat Lena Hofmann bisher dem Tennissport untergeordnet, alles war nur auf ein Ziel ausgerichtet: Profispielerin zu werden. Sie stand so dicht davor, den Durchbruch zu schaffen unter die besten 300 der Welt, und man würde ihr wünschen, dass sie noch einmal diese Chance bekommt im Leben – damit nicht alles umsonst war die ganzen Jahre.
Früh lernte Lena, sich in ihrem Umfeld zu behaupten. Der Vater verließ die Familie, als sie ein Kind war. Für die Tenniskarriere seiner Tochter hatte er kaum etwas übrig, ein „Hobby“, wie er meinte. Das trägt Lena ihm heute noch nach.
Ernst genommen fühlte sie sich zu dieser Zeit von Norbert Henneberger, ihrem ersten Trainer bei der TG Kitzingen. Aber was heißt schon Trainer? Der Tennislehrer aus Iphofen wurde für sie zum Vorbild – und irgendwann zum „Ersatzpapa“, wie Kerstin Hofmann gern erzählt. Ihm glaubte und vertraute Lena, weil auch er an sie und ihr Talent glaubte, weil er sie forderte und förderte, weil er, der auf dem Tennisplatz sonst nie mit jemandem schreit, sie auch mal zusammenstauchte – und damit ihren Ehrgeiz weckte. Als sie sich wegen einer Schiene am Bein kaum fortbewegen konnte, spielte er ihr punktgenau die Bälle zu, und sie schlug sie kraftvoll zurück. „Die beiden lagen einfach auf einer Wellenlänge“, sagt Kerstin Hofmann.
Irgendwann aber kam der Tag, an dem sie mehr wollte, als der Verein ihr geben konnte, der Tag, an dem der Horizont in Kitzingen zu eng wurde und auch ihr Trainer wusste, dass es Zeit sein würde für den nächsten Schritt in ihrer Karriere. „Es war klar“, so Henneberger, „dass sie weiterziehen muss.“ Da war das Angebot des bayerischen Tennis-Leistungszentrums aus München, wo sie optimal gefördert würde. Aber sie war erst 15 und ohne Schulabschluss. Kerstin Hofmann stand vor einem schwerwiegenden Entschluss. „Darf man seinem Kind so eine Chance verwehren?“, fragte sie sich. Eine Chance, die vielleicht bloß einmal kommt im Leben? Immerhin stieß sie als Mutter an Grenzen. Die Fahrerei, der Terminstress, ein Beruf, der sie forderte – dazu zwei weitere Töchter, die eine zwei Jahre älter, die andere acht Jahre jünger als Lena. Das alles galt es zu berücksichtigen. Kerstin Hofmann war bereit, loszulassen. „Ich merkte, wie sehr Lena es will.“
In München macht sie erst mal die zehnte Klasse am Gymnasium, die Mittlere Reife hat sie damit in der Tasche. Doch das genügt ihr nicht: Mit sechzehn will Lena nicht nur ihre Tenniskarriere beschleunigen, sondern auch ihre Schullaufbahn. Ihrer Mutter imponiert das: diese Disziplin, dieser Fleiß, die Zielstrebigkeit.
Kerstin Hofmann kann nicht ahnen, dass damit eine Zeit anbricht, die Jahre später mit Tränen ihrer Tochter und einem Brandbrief an den bayerischen Ministerpräsidenten enden wird.
Lena nimmt Fernunterricht, was in der Regel so funktioniert: Sie lernt sechs Tage in der Woche ihren Stoff in München, setzt sich jeden Freitag um 5 Uhr in den ersten Zug nach Mannheim, um dort ihre Leistungsnachweise zu schreiben, und fährt gleich darauf wie-der zurück. Nachmittags trainiert sie auf dem Tennisplatz.
So viel Fleiß macht sich bezahlt: Lena wird bayerische und deutsche Juniorenmeisterin. Schöne Erfolge, die sie ihrem großen Ziel aber kaum näher bringen. Um keine Zeit zu verlieren, macht sie in der Jugend Schluss und geht auf die Profitour. Sie will Punkte für die Weltrangliste. Im Sommer 2008 taucht dort erstmals ihr Name auf, ein Jahr später gewinnt sie ihr erstes Turnier auf Fuerteventura, verbunden mit einigen Tausend Dollar Preisgeld. Sie sieht sich auf einem guten Weg und plant ihr nächstes ehrgeiziges Projekt: Jetzt möchte sie das Abitur machen.
Ist sie unterwegs auf Turnieren, hat sie ihre Schulsachen dabei. Zu Hause zieht sie sich in ihr Zimmer zurück. Jede freie Minute nutzt sie zum Lernen – und doch bleibt da eine große Unwägbarkeit: Sie muss sich den ganzen Stoff selbst erarbeiten, sie kann nicht schnell mal nachfragen, wenn ihr etwas unklar erscheint. Lange steht die Sache gut, als sie im Sommer 2012 am Armin-Knab-Gymnasium in Kitzingen ihre Prüfungen ablegt. Es wird kein furioser Sieg werden, so viel ist klar, es sieht nach einem Arbeitssieg aus. Und dann, eines Morgens, empfängt die Direktorin sie mit der Botschaft: durchgefallen! Lena fehlt ein einziger Punkt.
Kerstin Hofmann ist empört: „Da lassen sie sie antanzen und dann schicken sie sie wieder heim.“ Aber mehr noch ist sie in Sorge. Wie würde Lena diesen „Schock ihres Lebens“ verkraften? Erst einmal bricht alles aus ihr raus, 24 Stunden habe sie durchgeheult. Sie hat so viel investiert. Fuhr Kerstin Hofmann mit ihr nach Österreich, wo Lena Bundesliga spielte, sprach die Tochter auf der ganzen Fahrt kein einziges Wort: Sie lernte nur. Und nachts besorgte Kerstin Hofmann an der Tankstelle in Marktbreit schon mal Energydrinks, um Lena wachzuhalten. Manchmal lernte sie bis zum nächsten Morgen.
Und nun das.
Kerstin Hofmann ruft bei Lenas Trainer in München an, schildert ihm das Drama, und Markus Zoecke meldet sich bei Lena auf dem Handy, als die mit dem Auto auf dem Weg zurück nach München ist. Über die Freisprecheinrichtung unterhalten sich die beiden, bis Lena nach endlosem Reden in München ankommt.
In Marktbreit setzt sich Kerstin Hofmann an den Computer. Sie ist immer noch wütend auf die Schule, die ihrer Tochter keine Chance auf eine Nachprüfung eingeräumt hat. Nun schreibt sie an den „sehr geehrten Herrn Ministerpräsidenten“ Horst Seehofer und an die damalige Bundesbildungsministerin Annette Schavan. Von ihnen bekommt sie die lapidare Antwort, das sei Sache der Schule. Um Lena auf andere Gedanken zu bringen, beschließt sie, mit ihr nach Ägypten zu fliegen. Abends, beim Spaziergang am Strand, versucht sie ihre Tochter zu trösten, ihr zu vermitteln, dass ihr auch ohne Abitur viele Wege im Leben offen stehen.
Lena spielt nach der Rückkehr noch einige Turniere in Deutschland, Österreich und der Türkei. Und dabei reift in ihr ein kühner Entschluss.
Ein halbes Jahr ist seit ihrem persönlichen Abitur-Drama vergangen, als sie ihrer Mutter stolz eröffnet: Ich möchte es noch mal versuchen, ich möchte mein Abitur nachmachen. Kerstin Hofmann weiß, dass Widerspruch bei ihrer Tochter zwecklos ist. Also geht sie, diesmal in Marktbreit, zum Direktor, der ihr verspricht, die Dinge zu regeln. Was nicht leicht ist bei einer externen Schülerin. Im Mai 2013 steht Lenas letzte Prüfung an: in Französisch. Sie braucht noch drei Punkte, dann hat sie es geschafft. Aber als ihre Mutter in der Früh in Lenas Zimmer kommt, bahnt sich die nächste Tragödie an.
Lena liegt auf dem Bett, ist in Tränen aufgelöst. „Nach dem ganzen Lernstress war sie völlig leer im Kopf. Es ging nicht mehr.“ Jetzt hat Kerstin Hofmann plötzlich ein Problem. In ihrer Not wendet sie sich an einen jungen Realschullehrer, der seit kurzem bei ihnen zur Miete wohnt. Er würde Lena in die Schule begleiten und vor der Türe warten, bis alles vorbei ist. Lena ist einverstanden – und besteht. Am Abend feiern sie bei Pizza und Pasta mit 30 Leuten in Marktbreit. „Es war ihr größter Sieg im Leben“, sagt Kerstin Hofmann voller Pathos.
Der Erfolg beflügelt Lena auf dem Tennisplatz. 2013 wird das bisher erfolgreichste Jahr ihrer Karriere. Sie gewinnt Turniere in Sarajevo und auf Heraklion, steht in Antalya, Innsbruck und auf Kreta noch dreimal im Finale, spielt in Amerika, auf grünem Sand. Am Jahresende ist sie 315. der Weltrangliste. Und der Erfolg setzt sich im Jahr darauf fort. Der 7. Juli 2014 wird für sie ein Datum zum Einrahmen: Platz 305 in der Frauenweltrangliste. So weit vorne stand sie noch nie. Sie nähert sich der Qualifikationsnorm für die US Open in New York, ihrem erklärten Lieblingsturnier. Wäre da nicht dieser 15. Juni 2014, der alles verändern wird.
Mit ihren Mannschaftskolleginnen des TC Luitpoldpark steigt sie frühmorgens in einen Kleinbus. Ihr Ziel: Offenbach. Um 11 Uhr beginnt dort das letzte Spiel der Zweitliga-Saison. Für die Münchnerinnen geht es um den Klassenverbleib. Ihr Einzel hat Lena sicher in zwei Sätzen gewonnen. Jetzt steht noch das Doppel an. Den ersten Satz verliert sie, 6:7 im Tiebreak. Auch im zweiten Satz sieht es nicht gut aus. Als sie zum Schmetterschlag ausholt, spürt sie im rechten Arm einen stechenden Schmerz.
„Ich wusste sofort, dass etwas kaputt ist“, sagt sie.
Trotzdem spielt sie die Partie zu Ende und verliert. Am Ende steigt Luitpoldpark ab. Für Lena Hofmann ist es der Anfang einer schicksalhaften Odyssee. Als sie in der Nacht heimkehrt, beschließt sie, am Morgen noch nicht zum Arzt zu gehen. Sie wartet damit bis zum übernächsten Tag. Dann aber steht die Diagnose fest: Eine Bizeps-Sehne ist gerissen, eine weitere Sehne angerissen, die Kapsel stark lädiert. Noch im Sommer lässt sie sich operieren, immer in der Hoffnung, bald wieder Tennis spielen zu können.
Fürs Erste aber darf sie gar nichts – keinen Sport treiben, sich kaum bewegen, noch nicht mal Auto fahren. Auch danach empfehlen ihr die Ärzte, langsam zu machen.
Sie fällt zurück in der Weltrangliste, bis auf Platz 665. Sie spürt, wie die Unruhe in ihr aufsteigt. Nur herumzusitzen und zu warten ist nicht ihr Ding. Also fängt sie im Herbst 2014 wieder an zu trainieren, viel zu früh. Die Sehne entzündet sich wieder. Im April 2015 wird sie erneut operiert, jetzt an der Berliner Charité. Anschließend spielt sie zwei Turniere am Schliersee und in Leipzig, nichts für die Weltrangliste, einfach, um zu sehen, ob die Sehne hält. Sicher sein kann sie sich da nicht. Eine Profisportlerin aber braucht das Vertrauen zu ihrem Körper – so wie eine Opernsängerin zu ihrer Stimme.
Sie trainiert, bricht das Training ab, und im Oktober beginnt Lena Hofmann in München die Reha.
Und über allem steht die Frage: Warum das alles?
Lena Hofmann gehörte nie zum illustren Zirkel der Stars, denen man in Paris, New York oder London den roten Teppich ausrollte. Sie wohnte nie im Ritz oder im Waldorf-Astoria, sondern verbrachte die Nächte in zweit- oder drittklassigen Hotels, oft weit weg vom Spielort, und am nächsten Morgen wartete keine schwere Limousine, sondern im Idealfall ein Taxi, das sie geordert hatte. In den USA stellte ihr eine Taxifahrerin die Koffer auf die Straße, weil sie keine Dollar dabei hatte, sondern nur Euro, und das Limit ihrer Kreditkarte überzogen war. Am Flughafen in Jackson konnte sie den Aufschlag fürs Übergepäck nicht zahlen. Also rief sie zu Hause an. „Du Mama, ich hab da ein Problem.“ Den halben Tag telefonierte Kerstin Hofmann damals herum, um die Sache zu regeln.
Achtzehn Stationen klapperte sie in ihrem aktivsten Jahr 2013 ab. Von Mallorca ging es nach Amiens in Frankreich, weiter in die USA, dreimal spielte sie in Deutschland, dreimal in Großbritannien. Das klingt nach Champagner zum Frühstück, nach rauschenden Partynächten, nach ständig blauem Himmel. Aber wer durch Lenas Augen auf diesen Geschäftsbetrieb blickt, der sieht kaum Glitzer und wenig Glamour. Der sieht zähe, schweißtreibende Arbeit vor halb leerer Kulisse.
Der sieht nur selten die echten Stars, wie einst Serena und Venus Williams in Stuttgart. Wer durch Lenas Augen blickt, der bekommt eine Ahnung von der Plackerei Hunderter, ja Tausender junger Tennisspielerinnen auf dieser Welt, die nicht das Glück haben, zu den besten hundert ihrer Zunft zu gehören und von ihrem Sport leben zu können.
Der Begriff „Tenniszirkus“ verniedlicht ein Phänomen, das in Wahrheit ein gnadenloses, eiskaltes Geschäft ist. Ein Haifischbecken, in dem man besser keine Gefühle und Empathie zeigt, weil sie nur hinderlich sind für die Karriere. Lena Hofmann wirkt bisweilen wie ein Goldfisch.
Wie passt das zusammen? Eine junge Frau, der Familie und Freundschaften über alles gehen, und ein Business, das von Egoismus und Neid beherrscht wird? „Ich verstehe das auch nicht, aber es ist so“, sagt Kerstin Hofmann. Sie erzählt von einem Turnier, bei dem Lena sich – ungewöhnlich genug – mit anderen ein Appartement teilte. Das kam alle billiger. Als Lena Fieber bekam, sich kaum noch bewegen konnte, sollten die anderen ihr aus der Stadt Medikamente mitbringen. Aber nicht einmal dazu waren sie bereit. „Man kann in diesem Geschäft niemandem trauen“, sagt Kerstin Hofmann.
Das Schlimmste ist die Einsamkeit auf der Tour. Am Frühstückstisch sitzt Lena meistens allein, Niederlagen muss sie oft mit sich selbst ausmachen, Siege kann sie mit kaum jemandem teilen. „Am Anfang saß ich im Zimmer und wollte nur nach Hause“, erzählt sie. Und doch mag sie sich nicht ausmalen, wie es wäre, auf all das künftig verzichten zu müssen: auf die Reisen nach Dubai oder Südamerika, auf die Streit- und Versöhnungsgespräche mit ihrer Mutter, die noch immer die wichtigste Person in ihrem Leben ist, auf die großen und kleinen Missgeschicke. In Frankreich merkte sie zu spät, dass ihr Waggon vom übrigen Zug getrennt worden war. Tief in der Nacht stand sie nachts auf dem Bahnsteig eines Kaffs, von dem Mutter und Tochter bis heute nicht wissen, wo es liegt, minderjährig, ohne Geld, ohne gültiges Ticket, mit nur wenigen Habseligkeiten. Der Schaffner war so nett, sie mit nach Hause zu nehmen. Lena hatte mal wieder ein Problem.
Jetzt schuftet sie mit selbstquälerischer Beharrlichkeit an ihrem Comeback, nichts dem Zufall überlassend, das eigene Schicksal zwingend, so wie sie auf dem Platz immer versucht hat, den Zufall aus ihrem Spiel zu eliminieren. Immer wartete sie nur auf eine Gelegenheit, offensiv zu werden, mutig anzugreifen. „Wo andere sich nicht getraut haben, hat sie nie überlegt, draufzugehen“, sagt ihr früherer Trainer Norbert Henneberger. „Sie wusste immer, was sie will.“ Hat ihr die Angriffslust in diesem Fall geschadet? Hat sie sich selbst verheizt, weil sie ihre Verletzung nicht ernst genug nahm?
Einen Plan B, so sagt Lena, habe sie nicht, und doch könnte sie morgen ein neues Leben anfangen. Obwohl sie ihr (Fern-)Studium als Sportmanagerin wohl erst im nächsten Herbst abschließen wird, rufen schon heute Unternehmen bei ihr an, um ihr einen Job anzubieten. Sie ist als Tennis- und Fitnesstrainerin zu buchen und jobbt im Kundenservice eines Tennis-Unternehmens, das Kurse übers Internet vertreibt. Sie müsste sich nicht vier Stunden am Tag bei der Reha quälen. Doch das hieße, mit einem Leben abzuschließen, in dem sie noch immer Träume und Visionen hegt. Ein Leben, in das Lena so viel investiert hat – viel mehr, als sie je zurückbekommen wird, und damit ist nicht so sehr das Geld gemeint, das sie in sieben Jahren auf der Tour verdient hat.
Es reichte oft gerade, um ihre Spesen zu bezahlen, auch dank ihrer wenigen Sponsoren und den Antrittsgeldern in der zweiten Bundesliga.
An manchen Tagen hat sie das Gefühl, sie kann es schaffen, aber es gibt auch Tage, da ist sie einfach nur erschöpft. Da spürt sie diesen Schmerz in der Schulter, und manchmal redet sie sich ihn auch ein. Sie weiß, dass nun alles von den nächsten Monaten abhängt. Sie will sich Zeit lassen, erst mal kleine Turniere spielen. Wenn sie etwas gelernt hat die letzten Wochen, dann war es Geduld; wenn sie etwas mitgenommen hat aus dieser Zeit, dann war es die Erkenntnis, dass „auch ein Leben ohne Tennis ganz reizvoll sein kann“, wie Kerstin Hofmann sagt.
Lena würde das nie so sagen. Wenn sie ihre Scheu abgelegt hat, spricht aus ihr eine höfliche, reflektierte junge Frau, die ihre Gefühle zu kontrollieren weiß. Sie geht in München häufig ins Kino, gelegentlich zum FC Bayern, und wenn Wies'n ist in der Stadt, sieht man sie gut gelaunt im weiß-blauen Dirndl. Bis zu den Alpen ist es ein Katzensprung für die begeisterte Skifahrerin – und im Sommer kann sie den schönsten Kastanien der Welt im Hofgarten beim Wachsen zusehen. Sie hat kein so schlechtes Gewissen mehr, wenn sie mal wieder ausspannt und nichts für die Karriere tut. Aber dieses Spiel ist – mit allem, was dazugehört – verdammt noch mal etwas, das sie immer noch so sehr liebt und das sie nicht missen möchte.
Manchmal greift man nach der ganzen Welt, heißt es in einem Lied der deutschen Rockband Karat. Manchmal meint man, dass der Glücksstern fällt.
Vielleicht muss Lena Hofmann einfach nur zur rechten Zeit am rechten Ort sein, um ihn aufzufangen.