Wer Julius Gärtner in seinem Elternhaus in Schney besuchen will, wird vor eine Herausforderung gestellt. Er muss die steile Berggasse hinauf. Mächtige Bäume strecken dort ihre blühenden Zweige über den Gehsteig. Sie spenden ein wenig Schatten für die Fußgänger, die den Berg hinaufschnaufen. Unten an der Hauptstraße röhrt ein Auto, nimmt den Berg im ersten Gang in Angriff. Oben sitzt Julius entspannt auf der Terrasse seines Elternhauses.
Der Zehntklässer fährt diesen Anstieg vor dem Haus jeden Wochentag mit seinem Fahrrad hinauf, wenn er vom Unterricht am Meranier-Gymnasium zurückkehrt. Für den Jungen mit den langen, braunen Locken ist das ein Klacks. Nur im Winter, wenn Schneehaufen die Bordsteine säumen und das Eis auf dem Asphalt den Himmel spiegelt, lässt Julius Gärtner das Fahrrad im Schuppen. „Dann jogge ich eben“, sagt er lächelnd. Bis zum Meranier-Gymnasium sind es 2,6 Kilometer...
Julius Gärtner ist ein sportliches Multitalent. Wenn er die Tür seines Zimmers öffnet, fällt als erstes die Bayern-München-Fahne ins Auge. Sie hängt vor dem Fenster und wird direkt von der Sonne angestrahlt. Ein wenig im Schatten auf dem Kleiderschrank steht Julius‘ Pokalsammlung. Flechtkulturlauf – U16 und U18, erster Platz. Schachturnier am Lichtenfelser Meranier-Gymnasium – erster Platz. Volkstriathlon – U19, erster Platz. Julius Gärtner zuckt mit den Schultern: „Ich wollte das einfach 'mal ausprobieren.“ Seine Paradedisziplin ist eigentlich das Radfahren: bayerische Bergmeisterschaft – U17, erster Platz. „Bei Radrennen habe ich bisher noch nicht viele Pokale gewonnen“, sagt Julius. Aber er ist auf dem besten Weg, das zu ändern.
Angefangen hat alles in den Pfingstferien 2014. Julius' Vater hatte noch ein altes Rennrad im Schuppen stehen. Mit dem fuhr er seine ersten schnellen Runden durch den Jura. Er radelte und radelte, am Ende der Ferien zeigte der Tachometer 1000 zurückgelegte Kilometer.
Julius erinnert sich schmunzelnd: „Danach hatte ich vier Monate Rückenschmerzen.“ Und ein neues Hobby gefunden. Vorher spielte er Fußball im Verein. Das gab er auf. Stattdessen machte ihn sein Cousin auf den RV Concordia Altenkunstadt aufmerksam. Im leuchtend orangen Leibchen des Vereins startete Julius Gärtner dann unter Anleitung von Trainer Matthias Jetschina vor zwei Jahren seine Radsportkarriere.
Inzwischen hat sich der 16-Jährige zum Aushängeschild des Radsportklubs entwickelt. Als erster Jugendlicher gewann er im Juli 2015 das 100-Kilometer Rennen des RVC Stetten durch die Fränkische Schweiz. „Am Ende des Rennens tut alles weh. Aber wenn man Vorsprung hat und kurz vor dem Ziel ist, genießt man das Gefühl“, sagt Julius. Vor wenigen Wochen holte er sich außerdem den Sieg beim Rennen durch den Banzgau.
Mit seinen Leistungen hat der junge Schneyer auch das Landesverbandsteam auf sich aufmerksam gemacht. Das dokumentiert die Einladung zur deutschen Straßenmeisterschaft der U19 vor einem Monat, wo Julius trotz eines Sturzes als 78. von 130 Startern ein achtbares Ergebnis erzielte.
Bundesweit unterwegs
Nidda, Zusmarshausen, Auenstein: Radfahren in Deutschland ist eine Randsportart. Dementsprechend klingen auch die Veranstaltungsorte nach tiefster Provinz. Familie Gärtner macht sich regelmäßig auf den Weg dorthin, bundesweit sind sie unterwegs, in Bayern, Thüringen, Nordrhein-Westfalen, Hessen. Julius sitzt dann auf dem Rücksitz, das Rennrad steht hinten auf dem Radständer. Dauerstress, denn im Frühling und Sommer findet fast jedes Wochenende ein Rennen statt.
„Ich wollte das einfach 'mal ausprobieren.“
Julius Gärtner zu den Anfängen vor zwei Jahren
An diesem Sonntag steht das nächste Rennen an: die bayerische Meisterschaft in der Disziplin Kriterium. Hierbei drehen die Fahrer viele Runden auf einem kurzen Kurs mit engen Kurven. Alle fünf Runden gibt es Punkte bei Sprintwertungen. Der Fahrer mit den meisten Punkten gewinnt. „Vergangenes Jahr ist Julius viermal gestürzt“, erzählt seine Mutter. Gerade die Kurven sind gefährlich. Julius zeigt seine Schürfwunde an der Hüfte. „Wenn man mit 55 Sachen über das Pflaster fährt oder mit 60 in die Kurve, macht das einfach richtig Spaß“, sagt Julius. „Da spürt man richtig das Adrenalin.“
Ob sich seine Eltern da keine Sorgen machen? Julius muss lachen. „Die sind nach dem Rennen genauso erledigt wie ich“, sagt er grinsend. Seine Mutter Heike stimmt ihm zu: „Nach dem letzten Sturz in Gera, von dem die Wunde stammt, waren sein Papa und ich fix und fertig im Auto gesessen. Julius saß auf dem Rücksitz und hat schon seine nächsten Rennen geplant.“
Ein Traum von Julius ist es, irgendwann mal bei der Tour de France mitzufahren. Wie sein fahrerisches Vorbild Alberto Contador, der „offensiv fährt, immer angreift und auch nach Stürzen weiter fährt“. Julius fährt am stärksten, wenn es in die Berge geht. Oder wie er es selbst ausdrückt: „Da bin ich nicht so schlecht.“ Seine Eltern unterstützen ihn zwar beim Ausüben seines Hobbies – dennoch hoffen sie, dass Julius nach der Schule kein Radprofi wird, sondern studiert.
Die rasanten Abfahrten an Abgründen entlang machen ihnen nämlich Angst. „Wenn man die teilweise schweren Stürze sieht, fragt man sich schon, ob man das wirklich will“, gibt sich auch Julius nachdenklich.
Für das nächste Jahr erhofft sich der Nachwuchssportler jetzt erst einmal die Aufnahme in das Landesverbandsteam. „Dann bekomme ich zum Beispiel das Trainingslager und das Fahrrad gesponsert. Ein Profi-Rennrad kostet schließlich zwischen 4 000 und 6 000 Euro. Außerdem kann ich endlich in einem Team trainieren“, sagt Julius.
Für dieses Ziel trainiert Julius hart. Jeden Dienstag trifft er sich zum Training mit Gleichgesinnten in Kulmbach. Natürlich fährt er von Schney aus dorthin und wieder zurück mit dem Rad. 130 Kilometer schafft er somit an einem Trainingstag. „Selbst an Ruhetagen fahre ich 20 bis 30 Kilometer“, erzählt Julius.
Den „Col du Galibier“ hochgefahren
Im Sommer vorletzten Jahres reiste Julius Gärtner mit seinen Eltern nach Frankreich in die Alpen. Sein Vater Willi fährt selbst viel Fahrrad, seine Mutter Heike lieh sich ein E-Bike. Zusammen fuhren sie über mehrere Pässe, zum Beispiel auf den des berühmten Galibier. Heike Gärtner zeigt Fotos. Darauf die Familie, hinter ihnen scharfe Felsen und tiefe Abgründe.
Den Frühlingsurlaub verbrachten sie dann auf Mallorca, dem „Mekka des Radsports“, wie Heike Gärtner sagt. Dort fuhr Julius auch seine bisher längste Tagesetappe: 185 Kilometer in sieben Stunden. Dabei bewältigte er 'mal schnell 3700 Höhenmeter. „An solchen Tagen trinke ich etwa acht Liter am Tag“, erzählt der 16-Jährige.
14 333 Kilometer in einem Jahr
In seinem Zimmer verwahrt Julius Gärtner seinen Trainingskalender. Penibel notiert er dort alle Daten: Streckenverlauf, Distanz, Höhenmeter, Durchschnittsgeschwindigkeit. 14 333 Kilometer legte er im Jahr 2015 auf dem Rennrad zurück, das ist in etwa die Strecke von Lichtenfels bis ins Herz von China und zurück. Für dieses Jahr hat sich Julius 16 000 Kilometer vorgenommen. Viele davon legt er alleine zurück. „Nach den ganzen Dopingaffären gab es einen Einbruch in den Vereinen“, meint seine Mutter. Auch in Julius‘ Altersklasse werden schon Proben genommen.
In seinem Verein, dem RVC Altenkunstadt, ist er der einzige verbliebene „junge“ Fahrer, alle anderen sind schon älter als 40. „Es wäre schön, wenn noch ein paar mitfahren würden“, hofft Julius auf Neueinsteiger. „In einem Team fahren macht viel mehr Spaß.“ Julius jedenfalls fährt weiter. Erst den Anstieg hinauf zu seinem Haus. Und dann immer weiter.