Er spürt, wie sie alle an ihm zerren. Hier noch ein Termin, dort noch eine Autogrammstunde, da noch ein Interview. Schulterklopfen. Ein Rundfunksender ruft an, ob er per Telefon live in der Sendung ein paar erste Eindrücke aus London schildern könne? Thomas Lurz lächelt. Er weiß, dass Olympia für seinen Sport ist wie ein Tor, das alle vier Jahre auch für Uninteressierte geöffnet wird. Er sagt: „Ich fliege doch erst am 7. August.“
Im Präsidentenzimmer des SV 05 Würzburg, im Stockwerk über der Geschäftsstelle, hängen an der Decke die olympischen Ringe aus Styropor. Thomas Lurz sitzt zusammen mit seinem Bruder und Trainer Stefan Lurz am Konferenztisch. Auf dem Trainingsanzug des Athleten prangt auf Höhe der Brust der Bundesadler. Noch ist Thomas Lurz als Oberstabsgefreiter angestellt bei der Sportförderkompanie Warendorf der Bundeswehr. Jetzt wartet sein wichtigster Auslandseinsatz: 16 Tage sind es noch bis zu seinem Rennen im See namens „The Serpentine“ des Londoner Hyde Park. Zum zweiten Mal nach Peking 2008 steht ein Zehn-Kilometer-Wettbewerb im Langstreckenschwimmen auf dem Olympiaprogramm, und Thomas Lurz ist der Favorit. Zehn Weltmeister-Titel hat der 32-Jährige aus Gerbrunn (Lkr. Würzburg) in der Disziplin des Freiwasserschwimmens gesammelt. Er ist eine Ikone seiner Sportart, er sagt: „Alles ist möglich.“
Es ist Dienstag. Eigentlich wäre trainingsfrei gewesen laut der Detailplanung, in der für die letzten Wochen vor dem Wettkampf ein deutlich reduzierter Umfang notiert ist. Die Detailplanung hat nur einen Fehler: Thomas Lurz kennt das Wort trainingsfrei nicht. Früher hat er zu diesem Thema mal gesagt: „Zuhause auf dem Sofa werde ich bestimmt nicht schneller.“ Also war er natürlich auch an diesem Dienstag im Wasser des vereinseigenen Wolfgang-Adami-Bades, auf Bahn zwei hat er ohne Trainer und neben Hobbyschwimmern eine lockere Einheit absolviert. Sehr zum Ärger seines Trainers. „Jetzt habt ihr eine tolle Story“, sagt Stefan Lurz in ernstem Ton, mit 35 Jahren der Ältere: „Thomas Lurz riskiert die Goldmedaille.“ Auch wenn die Aufgeregtheit gespielt ist, ein wenig Wahrheit schwingt in den Worten mit: Stefan Lurz weiß, dass er seinen Bruder manchmal bremsen muss. In den vier Jahren zwischen Peking und London, der Olympiade also, ist Thomas Lurz nicht weniger als 15 000 Trainingskilometer geschwommen. Eine Strecke, von Würzburg bis ins afghanische Kabul und zurück.
Rückblende. Im April sitzt Thomas Lurz an einem kleinen Tisch in der leeren SV-05-Gaststätte, die kleine Kneipe im Eingangsbereich wird seit längerem nicht mehr betrieben. Im Foyer hängen Ehrentafeln. Der SV 05 hat sie seinen Olympiateilnehmern gewidmet. Die lange Historie wird geprägt von wenigen Namen wie den Wasserballern Günter Wolf, den Kilian-Brüdern oder Michael Ilgner, dem heutigen Chef der Stiftung Deutschen Sporthilfe. Für Thomas Lurz sind die Tafeln tägliche Erinnerung. „Es ist so verdammt schwer, sich überhaupt für Olympia zu qualifizieren“, hat er damals gesagt und über den Erwartungsdruck gesprochen: „Jeder spricht dich auf Gold an, aber keiner weiß, was es heißt, überhaupt dabei zu sein.“ Welche Schinderei, welche Entbehrung.
Für Thomas Lurz werden es die dritten Olympischen Spiele sein, und natürlich ist der Seriensieger auch irgendwie selbst schuld am gestiegenen Erwartungsdruck. Jeder Titel mehr formte aus ihm den großen Favoriten. In jenem April-Gespräch in einer verwaisten Gaststätte gibt er einen seltenen Einblick in sein Seelenleben, er erzählt über Peking 2008, wie er es noch nie getan hatte: „Ich hätte dieses Rennen gewinnen müssen“, sagt er. Er habe im Endspurt einen Fehler gemacht, er habe den siegreichen Holländer unterschätzt. „Natürlich brauchst du Glück, aber das muss man sich auch verdienen.“ Bei diesem Rennen im Shunyi-Park habe er plötzlich Angst gehabt, er könne eine Medaille verlieren. „Jetzt gehe ich mit der Einstellung an den Start, zu gewinnen“, sagt er, „und es ist ein Riesenunterschied, ob du eine Medaille willst oder den Sieg“. Dann erzählte er, wie sehr ihn dieses olympische Rennen vereinnahmt. Er hat ja nur diese eine Chance am 10. August um 12 Uhr mittags. Dieses eine Rennen.
Konkurrenten-Studium auf youtube
Aber deshalb ist Olympia eben auch einzigartig. „Der See ist der gleiche. Die Gegner sind die gleichen“, sagt Thomas Lurz und wir sind zurück im Präsidentenzimmer, „aber du spürst trotzdem, das es etwas ganz Besonderes ist“. Sonntags, wenn er zwei Stunden auf dem Ergometer verbringt, hat Thomas Lurz seine Konkurrenten auf youtube-Videos studiert. Er kennt ihre Taktik, er weiß, wie sie anschlagen. „Trotzdem musst du während der knapp zwei Stunden jederzeit hellwach sein.“ Sechs Runden a 1,66 Kilometer sind im Serpentine-See zu absolvieren.
Rückblende. Es ist Ende Mai. Thomas Lurz absolviert jetzt einige Trainingseinheiten morgens im Würzburger Dallenberg-Bad. Er will sich an das kalte Wasser in London gewöhnen. Es ist zu spüren, wie sein Selbstbewusstsein gewachsen ist. In Mexiko hat er kurz zuvor seinen schärfsten Rivalen, den Griechen Spyridon Giannotis geschlagen. Seit einer Dekade ist Thomas Lurz der konstanteste deutsche Schwimmer, „aber nicht der talentierteste“, wie der Marathon-Mann gerne kokettiert. Aber es ist schon wahr, er definiert sich eher über Arbeit denn Anmut, sein Stil im Wasser ist ruppig. Er erzählt, dass er fünf Jahre nach dem plötzlichen Tod seines Vaters Peter, seines großen Förderers, immer noch zweimal die Woche ans Grab geht. „Ich glaube daran, dass einen Rückschläge stark machen“, sagt er und spricht damals im Mai auch erstmals über sein Buch, das mittlerweile auf dem Markt ist: „Auf der Erfolgswelle schwimmen“, heißt es. Lurz schreibt darin, dass hinter all den Erfolgen kein Zauber stehe, „es geht um harte Arbeit und die klare Definition eines Zieles“.
Die Beckenschwimmer sind bereits angekommen in London, der Sportdirektor des Deutschen-Schwimmverbandes, Lutz Buschkow, hat sie am Flughafen empfangen. „Der Thomas“, sagt Buschkow am Telefon, „ist ein absoluter Vorbildathlet, eine außergewöhnliche Sport-Persönlichkeit“. Der Funktionär schätzt dessen Härte gegen sich selbst. Ein Titel fehlt Thomas Lurz noch: Olympia-Gold. Er weiß, dass er alles dafür getan hat. Er weiß, dass es das härteste Rennen seines Lebens wird.