Ein Expertengespräch über „Kopfverletzungen im Sport“? Man mag es kaum für möglich halten, wie schwierig dieses Thema sogar für Fachleute ist, wie lange die Problematik selbst in Fachkreisen verkannt wurde. Immerhin geht es um die Gesundheit der Betroffenen, speziell um Spätfolgen von Gehirnschäden oder Kopfverletzungen, welche sich Sportler im Laufe ihrer Laufbahn zugezogen haben.
Bis zum heutigen Tage werden zum Beispiel Gehirnerschütterungen regelmäßig unterschätzt – Gehirnerschütterungen, wie es sie nicht nur beim Boxen oder Kampfsport öfters gibt, sondern auch im Basketball und Eishockey, bei Skifahrern, Hand- oder Fußballern sowie vor allem American Footballern. Denn gerade im Fußball macht sich mittlerweile eine Football-Unsitte breit, deren Ausmaß Schiedsrichter und Trainer nicht richtig bewerten, noch gar nicht ermessen können: die Unsitte der hässlichen Ellbogenchecks mit Wucht ins Gesicht der Gegenspieler. Fast jeden Bundesliga-Spieltag sind solche unschönen Fälle zu sehen. Erkannt und behandelt werden die Auswirkungen freilich meistens gar nicht bis medizinisch falsch.
„Zu früh als geheilt betrachtete Gehirnerschütterungen können zur Demenz oder sogar zum plötzlichen Tod führen.“
Christopher Nowinski, US-Experte für Sportneuropsychologie
Es ist die Fachgruppe der Neuropsychologen, die sich neuerdings verstärkt für die (so wörtlich in der Ladung zur Expertenrunde) „neuro-degenerativen Erkrankungen, die durch Sport-bedingte Schädel-Hirn-Traumen hervorgerufen werden“, interessieren. Normalerweise sind Neuropsychologen damit befasst, Schädel-Hirn-Erkrankte (wie etwa Schlaganfall-Patienten oder Unfall-Opfer) weiter zu betreuen, vor allem die psychischen und kognitiven Prozesse der jeweiligen Erkrankung zu untersuchen. Doch zudem hat sich das „Zentrum für Klinische Neuropsychologie“ von Gerhard Müller und Herbert König (Semmelstraße 36/38, 97070 Würzburg, Tel. 09 31 / 41 51 00) dem Feld der Sportneuropsychologie verschrieben. Vor fünf Jahren bereits fing Müller aus Interesse an, Erfahrungen zu sammeln – von seinem zuständigen Mitarbeiter, dem Dipl.-Psychologen Dr. Andreas Eidenmüller, wurden dazu die Drittliga-Handballer des HSC Bad Neustadt als Partnerverein auf Herz und Nieren, etwas korrekter gesagt: Hirn, neuropsychologisch durchgecheckt und getestet.
Noch suchen „König & Müller“ für ihr ambitioniertes Projekt weitere Sponsoren, Unterstützer und Partner (diese Zeitung ist einer). Inhaltlich freilich starteten sie nun mit ihrem Expertengespräch voll durch. Haupt-Referent im Veitshöchheimer Hotel „Weißes Lamm“ vor einer Reihe ranghoher Teilnehmer war nämlich Christopher Nowinski – so etwas wie das lebende Fallbeispiel seiner Zunft. Nowinski war früher ein bekannter Footballer und Wrestler. Doch als er eines Tages nach einer vorliegenden Serie an Gehirnerschütterungen und Kopfattacken bemerkte, dass er irre Kopfschmerzen bekam, gefährlich zu schlafwandeln begann, allerlei bizarre Dinge tat und gedankliche Ausfälle erlitt, stoppte er den Sport. In Selbstversuchen erforschte er die eigene neuropsychologischen Lage; inzwischen hat er 75 Sportler-Hirne von toten US-Footballern, Boxern und Eishockeyspielern zu Hause in seiner „Gehirnbank“ erforscht.
Nowinskis aufschreckendes Fazit, nachlesbar im Buch „Head Games“, lautet: „Wir müssen die jahrelange Ignoranz beenden. Nicht behandelte oder zu früh als geheilt betrachtete Gehirnerschütterungen kumulieren sich in ihren Wirkungen. Am Ende kann dies nach 15, 20 Jahren zu Demenz und sogar zum plötzlichen Tod führen – und keiner erkennt den Grund.“ Wie er zeigte sich auch Gastgeber Gerhard Müller fest davon überzeugt, dass es neben anderen Spätfolgen sogar einige plötzliche Todesfälle gibt, die entgegen der landläufigen Meinung nicht auf Herzprobleme zurückführbar sind, sondern auf Gehirnprobleme wegen falscher Diagnosen bei Schädel-Hirn-Traumen, bei unbehandelt gebliebenen oder zu früh als geheilt betrachteten Sportlern, die zu rasch wieder ihren Sport ausübten.
Lindsey Vonns riskante Rennen
Dass hierbei oft auch eine falsche Heroisierung im Spiel ist, benannte Nowinski als Zusatzproblem: Etliche Trainer oder Spieler, auch Zuschauer, würden es heldenhaft finden, wenn Athleten nach Vorfällen im Spiel oder Training zwar Schwindel oder Missgefühle bis hin zu Ausfällen bemerken, aber glauben, unbedingt weitermachen zu müssen. Als eine der prominenten Negativbeispiele dieser Art gab Nowinski Skifahrerin Lindsey Vonn an. Die hatte vor der WM in Garmisch-Partenkirchen im Februar zwar bei einem Trainingssturz eine starke Gehirnerschütterung erlitten, fuhr aber trotzdem Rennen. Die Teamärzte gaben grünes Licht – obwohl Vonn angab, sich bei den Rennen plötzlich nicht mehr an die eingeprägte Strecke erinnert und sie wie im Schleier gesehen zu haben. „Den Teamärzten, die sie hatten fahren lassen, wäre Weiterbildung im neuropsychologischen Sinne nur sehr dringend anzuraten.“ Krasser formuliert: Viele solcher schlecht behandelten, nicht ausgeheilten Gehirnerschütterungen dürfe sich Vonn nun nicht mehr zuziehen, um kein Risikofall zu werden.
Übrigens ist zwischenzeitlich der Deutsche Fußballbund immerhin auch auf die Neuropsychologie und Nowinskis Erkenntnisse aufmerksam geworden. Der US-Experte trug beim DFB in Frankfurt am Tag nach dem Veitshöchheimer Expertengespräch seine Forschungsresultate vor. Der Schweinfurter Kreisspielleiter Jürgen Pfau war bereits in Veitshöchheim auf Bitten des Bezirksvorsitzenden Rolf Eppelein zu Gast – und brachte seine Meinung auf den Punkt: „Das Thema anzupacken, ist eine sehr gute Sache. Die Gefahren sind uns auch im Fußball offenbar zu wenig bewusst und sollten künftig auf allen Ebenen vermittelt werden!“
ONLINE-TIPP
Informationen gibt es im Zentrum für Klinische Neuropsychologie Würzburg: www.neuropsychologie.de oder www.sportneuropsychologie.de