Sehr ehrlich beschreibt die Gemündenerin in ihrem Buch aber auch, wo sie zur falschen Zeit am falschen Ort war. Als echte Rock'n'Rollerin, als Mischung aus Freiheit und Abenteuer, aus Rebell und Star beschreibt die Schauspielerin Jasmin Tabatabai die Fußball-Nationaltorhüterin Nadine Angerer, mit der sie seit vielen Jahren befreundet ist. So zu lesen im Vorwort von Angerers Autobiografie, die jüngst unter dem Titel „Im richtigen Moment. Meine Story“ erschienen ist. Im Interview darüber spricht die 36-Jährige aus Gemünden (Lkr. Main-Spessart), die ab diesem Mittwoch mit der deutschen Elf beim Algarve Cup in Portugal antritt, während eines Heimatbesuchs über richtige und falsche Momente in ihrem Leben.
Frage: Ihre Autobiografie heißt „Im richtigen Moment“. Warum?
Nadine Angerer: Ich stand in meinem Leben oft am Scheideweg. Im richtigen Moment hab ich immer die richtige Entscheidung gefällt, weil ich die richtigen Leute getroffen habe. Die mich inspiriert haben oder die gute Lehrer waren.
Sie sind erst 36 Jahre . . .
Angerer: . . . jung und knackig. (lacht)
Ist das wirklich schon der richtige Moment, um eine Autobiografie vorzulegen?
Angerer: Na ja, es sind ja nicht meine Memoiren, es ist ja eher ein Zwischenbericht, der mehr oder weniger aus Zufall und Spaß entstanden ist. Die Autorin, Kathrin Steinbichler, und ich sind seit mehr als 20 Jahren befreundet. Als wir uns mal wieder getroffen und uns die alten Anekdoten erzählt haben, mussten wir beide viel lachen. Kathrin hat damals gesagt: Dass du ein Profi werden konntest, ist echt ein Wunder. Sie meinte, das sei eine coole Story, daraus müsste man ein Buch machen. Vor zweieinhalb Jahren haben wir dann damit angefangen.
Lassen Sie uns zurückgehen zum Anfang. „Alles aufs Los“ heißt im Buch das Kapitel, das über Ihre erste große Lebensentscheidung mit elf Jahren erzählt – und der Titel ist wörtlich gemeint.
Angerer: Ich hab früher leidenschaftlich Handball beim TSV Lohr gespielt, genauso leidenschaftlich aber auch Fußball, damals noch bei den Jungs vom ESV Gemünden. Durch die Terminkollisionen musste ich mich irgendwann zwischen beiden Sportarten entscheiden. Das fiel mir schwer. Also habe ich zwei Zettel beschriftet, auf dem einen stand Handball, auf dem anderen Fußball, hab sie gefaltet, auf unserem Balkon auf den Tisch fallen lassen und mit geschlossenen Augen einen Zettel gezogen. Den mit Fußball. Das richtige Los im richtigen Moment.
Eigentlich wollten Sie im Fußball anfangs lieber Tore schießen als verhindern. Haben Sie Ihren Weg ins Tor einem eigentlich falschen Moment zu verdanken?
Angerer: Nein, ich würde sagen, das war auch wieder ein richtiger Moment, als sich die Torhüterin in der Bayern-Auswahl verletzt hatte und ich damals beim Länderpokal ins Duisburg ins Tor gestellt wurde – auch wenn ich mir darüber in dem Augenblick nicht bewusst war. Aber auch bei meiner Mädchenmannschaft vom ASV Hofstetten habe ich ja im Sturm und im Tor gespielt. Die Zeit im Feld war auf jeden Fall von Vorteil für mich, ich bin froh, dass ich auch als Torhüterin mit dem Fuß umgehen kann.
In der A-Nationalmannschaft mussten Sie lange auf den richtigen Moment warten – zehn Jahre, um genau zu sein. Sie waren zwar ab 1997 bei den großen Turnieren dabei, aber immer nur als Nummer zwei auf der Bank. Im Tor stand stets Silke Rottenberg. Das hat sich für Sie manchmal falsch angefühlt, richtig?
Angerer: Natürlich hat sich das falsch angefühlt! Vor allem in den späteren Jahren, denn da hab ich richtig viel trainiert und kam trotzdem nicht zum Zug. Deswegen hatte ich 2007 für mich die Entscheidung getroffen, dass, wenn es nach zehn Jahren nicht klappt, es wohl nicht sein soll und ich dann eben aufhöre.
Es sollte wohl doch sein. Im Januar 2007 riss sich Silke Rottenberg das Kreuzband – neun Monate vor der WM in China. Was war damals Ihr erster Gedanke, als sie es erfuhren?
Angerer: Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, Silke hätte mir leid getan. Natürlich wollte ich nie so die Nummer eins werden, ich wollte eigentlich sportlich besser sein. Was ich phasenweise ja auch war. Aber es kam eben, wie es kam.
Dann kam die WM – und Ihr großer Durchbruch. Mit dem Höhepunkt im Finale gegen Brasilien, als sie einen Elfmeter von Marta parierten.
Angerer: Damals war ich im richtigen Moment mental und körperlich komplett fit und mit dem richtigen Team am richtigen Ort.
Sie haben die WM nicht nur als Nummer eins angefangen, sondern auch mit einem Rekord im Fußball abgeschlossen: Sie waren mehr als 540 Minuten ohne Gegentor geblieben. Als Sie damals den Pokal hochgestemmt haben – war das einer der richtigsten Momente Ihres Lebens?
Angerer: Dieser Moment war eine einzige Leere. Das war total krass, ich habe gar nichts gefühlt. Erst nach ein paar Tagen, als das ganze Adrenalin aus dem Körper war, habe ich richtige Freude empfunden.
Das „krasseste Turnier“, so heißt es im Buch, war für Sie aber die EM 2013. Warum?
Angerer: 2007 war ich Debütantin und nur mit mir selbst beschäftigt. Ich stand total unter Druck, weil ich ja auch immer gefordert hatte, die Nummer eins zu sein. Nun musste ich Leistung bringen. Einfluss auf die Mannschaft hätte ich damals nicht auch noch nehmen können. Meine einzige Konzentration galt nur dem Gedanken: Der Ball darf nicht ins Tor. 2013 war ich viel erfahrener, und als Kapitänin sollte und wollte ich den jüngeren Spielerinnen eine Säule sein. Da war es neben meinem Job im Tor auch meine Aufgabe und mein Anspruch, zwischen Trainerin und Mannschaft zu vermitteln und zu schauen, dass wir als solche funktionieren.
Sie haben funktioniert und auch diesen Titel geholt. Und Sie haben diesmal im ganzen Turnier nur ein Gegentor kassiert, dafür aber im Finale gegen Norwegen zwei Elfmeter gehalten. Wissen Sie noch, wie Sie in den beiden Momenten das Richtige getan haben?
Angerer: Durch Intuition. Das klingt so, als würde man das geschenkt kriegen, aber das ist nicht so. Dafür habe ich wirklich sehr, sehr hart trainiert. Es gab Zeiten, in denen war ich im wahrsten Sinne des Wortes richtig asozial, hatte kaum Kontakt zu Freunden, sondern war nur auf den Fußball fokussiert. Der Preis, den man für solchen Erfolg zahlt, ist durchaus hoch. Aber ich hatte im Sport schon immer diese Siegermentalität, die man auch mitbringen muss, um so weit zu kommen.
Danach, so beschreiben Sie es, dachten Sie selbst: Besser kann?s nicht kommen. Aber dann kam von der Fifa die Einladung nach Zürich zur Wahl der Weltfußballer 2013 – und Sie wurden vor den Spielerinnen Marta und Abby Wambach als erste Torhüterin überhaupt zur Siegerin gekürt. Ein Moment, den Sie im Buch als „einzigartig“ bezeichnen.
Angerer: Na ja, ich war total aufgeregt und hatte natürlich auch keine Rede vorbereitet. Aber selbst da ist mir im richtigen Moment was eingefallen. Schön war aber vor allem der Austausch mit den anderen wie Messi oder Cristiano Ronaldo, auch, um festzustellen, dass das ganz wunderbare und normale Menschen sind. Nicht normal ist bloß der Hype um sie. Das war so ein Abend, an dem ich auch wieder mal gelernt habe, dass man Leute nicht vorschnell beurteilen sollte.
Was ist richtig und was falsch an den Vorurteilen über Cristiano Ronaldo?
Angerer: Klar gibt er sich in der Öffentlichkeit oft genug so exzentrisch, wie er wahrgenommen wird, aber ich hab ihn als sehr höflichen und dankbaren Menschen kennengelernt, der jeden respektvoll behandelt hat.
Es gab in Ihrem Leben auch Momente, in denen Sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Zum Beispiel der Moment, als Sie für Bayern München spielten und eines Morgens einen Anruf aus Dessau bekamen . . .
Angerer: Der mich auch noch geweckt hat! (lacht) Ich lag nach einer langen Nacht im Bett, als Silvia Neid, damals noch Assistenztrainerin von Tina Theune, anrief und fragte: „Sag mal, Natze, wo bist du?“ Und ich antwortete: „Na, wo soll ich sein? In meiner Wohnung in München.“ Dann gab sie mich an die Bundestrainerin weiter, die richtig sauer war und mich aufklärte, dass sie mit der Nationalmannschaft zum Länderspiel in Dessau war – zu dem ich nicht mehr nachkommen brauchte. Ich hatte die Einladung damals gar nicht aufgemacht. Oft lag meine Post tagelang in meinem Briefkasten und dann noch mal tagelang ungeöffnet in meiner Wohnung. Ich hab lieber ausgiebig das Freizeitangebot in München wahrgenommen. Damals dachte ich, mein Talent allein reicht, und davon hatte ich viel, vielleicht am meisten. Aber ich war auch nicht die Ehrgeizigste. Irgendwann sagte die Bundestrainerin zu mir: „Entweder du nimmst deinen Sport jetzt ernst und wirst die beste Torhüterin der Welt – oder du fliegst raus.“
Sie haben sich für Ersteres entscheiden. Heute heißt ihr Motto: Konzentriert spielen, lässig leben. Werden Sie trotzdem immer noch manchmal als zu lässig unterschätzt?
Angerer: Ja, das glaube ich schon, ich wirke ja auch sehr lässig. Nichtsdestotrotz kann ich mich auf den Punkt konzentrieren und bin auch sehr ehrgeizig. Aber ich brauche eine Balance aus Be- und Entlastung, muss zwischendurch immer mal raus in mein Häuschen auf Fuerteventura zum Tauchen.
Es gab da noch einen anderen falschen Moment. Als Sie recht kurzfristig von Bayern zu Turbine Potsdam wechselten und Ihnen auf der Autofahrt nach Berlin einfiel, dass Sie dort noch gar keine Wohnung haben, die sie mit Ihrem Hausstand beziehen können – den Sie auf einem Anhänger dabei hatten . . .
Angerer: Peinlich, ne? Ja, aber so war es wirklich. Auf dem Parkplatz an einer Raststätte hat mich damals auch noch die Polizei kontrolliert, ob das Zeug auf dem Anhänger wirklich alles mir gehört. Zum Glück kam ich abends bei einer Mannschaftskollegin unter, und nach zwei Tagen hatte ich auch schon eine coole Wohnung – wenn auch mit Einschusslöchern in der Wand.
Schließlich war da noch der sicher nicht richtige Moment des Ausscheidens im Viertelfinale der Heim-WM 2011, bei der nichts anderes als der Titel das Ziel gewesen war.
Angerer: Genau das war damals das größte Problem: Wir haben nicht von Spiel zu Spiel gedacht, sondern von Anfang an vor allem ans Finale. Das wird mir nie mehr passieren.
Vor dem Turnier hatten Sie sich in einem Interview mit dem „ZEIT-Magazin“ öffentlich geoutet, damals als bisexuell. Warum war es ausgerechnet vor der WM im eigenen Land der richtige Moment, das zu tun?
Angerer: Damit ich meine Ruhe habe.
Das Gegenteil war danach erst mal der Fall, Sie sorgten für viele Schlagzeilen. Trotzdem erzählen Sie auch im Buch offen über Ihr Privatleben, darüber, dass Sie Frauen lieben, aber auch mit Männern zusammen waren. Warum tun Sie das – und warum interessiert das so viele?
Angerer: Ich habe das Thema mit reingenommen, weil es in den Medien so ein großes war. Mich interessiert es nicht, wen jemand liebt, und ich habe auch Besseres zu tun, als ständig zu bewerten, wie andere Leute leben. Ich hab auch keine richtige Erklärung dafür, warum das im Fußball so interessant ist, außer Hobbypsychologie, Teil eins: Weil es halt die Testosteron-gesteuerte Männerdomäne ist (lacht). Grundsätzlich glaube ich aber, dass wir in Deutschland ein großes Bedürfnis haben, alles in Schubladen einzuordnen.
Abschließend steht in Ihrem Buch, dass Sie zufrieden sind mit Ihrem Leben, weil Sie wissen, wer Sie sind. In drei Sätzen: Wer sind Sie?
Angerer: Hallo, ich bin Nadine Angerer . . . (lacht) Nein, also ich bin ein sehr neugieriger Mensch, der von Macht nicht viel hält, sich immer reflektiert und offen für andere Meinungen ist. (Pause) Und ich bin lustig.
Warum, glauben Sie, waren Sie bisher in so vielen Momenten am richtigen Ort?
Angerer: Vielleicht, weil ich offen für das Glück bin. Viele sehen es ja als Zufall oder Geschenk an, glücklich zu sein. Für mich ist das eher eine Lebenseinstellung.
Nadine Angerer
Ans Aufhören denkt Nadine Angerer noch nicht. Warum auch? Mit 36 Jahren fühlt sie sich im besten Torwartalter. 1978 in Lohr geboren und in Gemünden aufgewachsen, gehört sie seit 1997 zur deutschen Nationalmannschaft, seit 2007 ist sie deren Nummer eins. Mit ihr gewann sie zwei WM- und fünf EM-Titel, dazu drei olympische Bronzemedaillen. Nach den Vereinsstationen 1. FC Nürnberg, Wacker München und Bayern München holte sie mit Turbine Potsdam zweimal die deutsche Meisterschaft. Es folgten Verträge bei Djurgarden Stockholm, dem 1. FFC Frankfurt und Brisbane Roar (Australien). Aktuell spielt Angerer in Oregon/USA für die Portland Thorns. Mit der deutschen Elf steht im Sommer die WM in Kanada an. Die Physiotherapeutin lebt mit ihrer Freundin Magdalena in Portland, Frankfurt und auf Fuerteventura. Dort kann sie sich vorstellen, z. B. mal als Fitnesstrainerin zu arbeiten.