Schon auf den ersten Blick wirkt er wie der Antityp des modernen, urbanen, vor lauter Internationalität glatt gebügelten Menschen. Historisches Hemd, wild sprießender Backenbart, rotes Halstuch. Vielleicht muss Christoph Lambertz allein von Berufs wegen so aussehen. Der Mann ist Leiter der Beratungsstelle für Volksmusik in Krumbach, im Herzen Schwabens.
Moderne und die gute alte Zeit schließen sich hier nicht aus. Zusammen mit einer jungen Kollegin sitzt Lambertz am Computer und gibt handschriftlich überlieferte Noten eines gewissen Xaver Echtler in ein Notenprogramm ein. So werden sie konserviert für die Ewigkeit. Echtler war nie ein Star, sondern früher einmal Zitherlehrer im schönen Örtchen Legau bei Memmingen. Dass er nicht international gewirkt hat, macht nichts. Seine Werke haben ihn überlebt. „Er schrieb einfache Stücke, Landler, Polkas – genau richtig für Einsteiger in die Volksmusik“, erzählt Lambertz.
Wer etwas über heimatliche Klänge erfahren will, ist bei ihm richtig. Lambertz residiert fast herrschaftlich in einem ehemaligen Wasserschlösschen. Der Mann und seine Mitarbeiterinnen müssen gut untergebracht sein. Sie entscheiden schließlich, was in Schwaben und Bayern volksmusikalisch bewahrenswert ist und was nicht.
Nach Andy Borg kräht kein Hahn mehr
Ob die – wie man neuhochdeutsch sagt – Songs, die in der rundum renovierten „Stadl-show“ der ARD von den Jetzt-Stars der volkstümlichen Musik präsentiert werden, auch so eine lange Halbwertszeit haben wie Echtlers Tondichtungen? Gefühlt eher nicht. Das Showgeschäft ist kurzlebig geworden, und die Karrieren von Künstlern und Moderatoren sind es auch. Der letzte, den es traf, ist Sänger und Moderator Andy Borg, nach dem heute – ehrlich gesagt – kein Hahn mehr kräht.
Und schon sind wir mitten drin im Schunkelmilieu. Vieles soll anders sein, moderner beim „Musikantenstadl 2.0“, der nicht mehr „Musikantenstadl“ heißen darf, weil allein der Name zu altbacken klingt. „Stadlshow“ – das kommt nach Meinung der Fernsehmacher besser rüber, schneller, progressiver. Allein diese Veränderung scheint Interesse zu wecken, zumindest beim Heimatmusik-Experten Lambertz. Als 38-Jähriger wäre er als Zuschauer bisher eine Ausnahme gewesen, denn das Publikum des „Musikantenstadls“ galt als überaltert. Der Durchschnittszuschauer der ARD steht zwar auch schon knapp vorm Renteneintritt, aber das Stadl-Publikum war den Programmverantwortlichen dann doch zu alt. Es geht nun mal auch im Ersten ums Geschäft und um die werberelevante Zielgruppe, die im Idealfall jünger als 30 Jahre ist. Diese erreicht interessanterweise die traditionelle Volksmusik, weil Tausende junger Musikanten in Bayern die Tradition bewahren wollen. Aber dazu später.
Die Grenzen zwischen den Genres
Ganz vergrämen wollen der Bayerische Rundfunk und der österreichische ORF jedoch die älteren Zuschauer nicht. „Bewährtes bleibt, Neues kommt“ lautet die Devise. Einerseits soll also die Grund-DNA einer jahrzehntelang beliebten Eurovisionssendung fortgeführt, andererseits sollen auch aktuelle Trends aufgegriffen werden – ein schwieriger Brückenschlag, wie die erste Ausgabe bewies: Lediglich 2,46 Millionen Zuschauer schalteten bei der Premiere des Moderatorenduos Francine Jordi und Alexander Mazza ein. 2014 sahen im Schnitt noch 3,96 Millionen den „Musikantenstadl“. Und Zeit zum Schunkeln blieb dem Publikum auch nur wenig. Technische Tonprobleme und Musiker, die ihr Playback bei den Live-Auftritten teilweise schwer vermissten, ließen die Stimmung nur langsam auftauen.
Bleibt die Frage: Warum ist die volkstümliche Musik mit Interpreten wie Hansi Hinterseer, Andy Borg oder Marianne und Michael tendenziell ein Auslaufmodell und echte Volksmusik mit ihren modernen Ausläufern ein Trend? Und: Wo verlaufen die Grenzen zwischen den Genres? Christoph Lambertz hört das Wort „echt“ bei diesem Vergleich nicht so gern. Er verweist darauf, dass selbst innerhalb der Volksmusik teilweise erbittert über dieses Thema gestritten wird. Die Antwort mündet in die Frage: Was ist das, bayerische Volksmusik?
Vor allem Puristen südlich von München behaupten, dahinter stünden ausschließlich die von den Volksmusik-Ikonen des vergangenen Jahrhunderts, Wastl Fanderl und Kiem Pauli, gesammelten Werke, die man in vorgegebener Besetzung ohne jede Veränderung zu spielen habe.
Lambertz definiert das Pflegenswerte offener: Was den Traditionalisten als geschmacklos gilt wie rührige Heimatlieder, zählt er durchaus noch zur Volksmusik. Aber wo würde er den Limes zum Kitsch errichten? Nach längerem Überlegen fällt ihm eine Art definierte Grenze ein, die aber nichts über die Qualität der Lieder aussagt. Volkstümliche Weisen seien „produzierte Musik, hinter der immer wirtschaftliche Interessen stecken.
Da steht eine ganze Industrie dahinter.“ Bei der traditionellen Volksmusik stehe das „Selberspielen“ im Vordergrund. „Das funktioniert ohne Produzent und Plattenvertrag daheim im Wohnzimmer.“
Kann das der Grund für den Aufschwung der einen und dem Abschwung der anderen sein? Lambertz reibt sich den Bart und denkt nach, ehe er sich zu einer Antwort durchringt: „Das Aufblühen der Volksmusik hängt sicherlich auch mit der Globalisierung zusammen, die solch einen Gegentrend befeuert.“ Es handle sich um kein rein musikalisches Phänomen, glaubt er. Auch der Trend zu Trachten, öffentlich sichtbar auf Volksfesten wie der Münchner Wiesn, gehöre dazu. Lambertz junge Mitarbeiterin Heidi Wiesler aus Wielen bei Irsee denkt praktisch: Gerade in den Dörfern finden die jungen Leute nach wie vor am ehesten bei der Feuerwehr, beim Sportverein oder eben bei der Blasmusik eine Heimat für sinnvoll verbrachte Freizeit abseits der Playstation, sagt sie.
Die weltoffene junge Generation
Lena Wohlschläger, eine aus dem oberbayerischen Peiß stammende Geigerin, steht stellvertretend für die junge Generation an gut ausgebildeten Volksmusikern, die zumeist weltoffen sind und gleichzeitig stark heimatbezogen denken und fühlen. Von volkstümlicher Musik grenzt sie sich rigoros ab. Die sei grauenvoll. Sie komme zu süßlich, zu idealisierend daher. „Die Lieder klingen so, wie jemand riecht, der zu viel Parfüm aufgetragen hat.“
Die bald 18-Jährige ist nach dem Abitur in einem Münchner Musikgymnasium von ihrer ersten Geigenlehrerin mit traditioneller Volksmusik „infiziert“ worden. „Wir haben dann schnell ein Trio gegründet, sind gefördert worden, spielten im Dorf und bald auch im Umkreis zu den unterschiedlichsten Anlässen – von feierlichen Messen bis zu Hochzeiten.“ Anerkennung und Applaus gab es zuhauf. Sogar eine eigene CD haben die jungen Volksmusiker mit ihrem letzten Quartett aufgenommen. Doch auch da steht nicht der Verkauf der Musik im Vordergrund, sondern „das Musimachen“.
Gerne treffen sich die junge Frau und ihre Freunde auch spontan und spielen frei – eine Art des Musizierens, die man im Jazz oder in der Rockmusik als Jam Session bezeichnen würde.
Volksmusik mag die talentierte junge Geigerin, weil sie in ihr das Gefühl entfalte, angekommen zu sein. Sie will dazu beitragen, die überlieferten Weisen in die neue Zeit zu tragen. Es habe sich in der neuen Szene zuletzt auch viel getan, meint sie. Die starren Traditionalisten seien auf dem Rückzug, der Nachwuchs verändere heute schon mal Akkorde. Die bisher unantastbaren alten Stücke werden frisch angefasst, interessanter und vielschichtiger gemacht, neue Stücke im alten Stil kämen dazu.
Massentaugliche Oberkrainer-Form
Volksmusikexperte Lambertz geht noch zwei Schritte weiter. Er behauptet, die Grenzen zwischen Schund und schön, zwischen gut und schlecht würden immer mehr verschwimmen, die Mauern hin zum Volkstümlichen fallen.
Und nicht nur in Schwaben gebe es einen weiteren interessanten Trend: Die lange Zeit unter Experten als „volkstümelnd“ verschriene Oberkrainer Blasmusik („Die lustigen Oberkrainer“) gelte inzwischen als salonfähig oder besser: bierzelttauglich. Blaskapellen in Schwaben und Oberbayern würden ihr Programm weniger mit bayerischen als mit böhmischen Stücken bestreiten, verrät der gebürtige Ingolstädter.
An dieser Stelle kreuzen sich noch einmal die Wege von volkstümlicher und Volksmusik, und der große Bogen zur „Stadlshow“ ist geschlagen: Die Combo „Powerkryner“, die aus dieser böhmischen Musiktradition heraus stammt, hat bei der Premiere des neuen Stadl eine moderne, massentaugliche Form des Oberkrainer-Stils präsentieren. Dieser wurde übrigens insbesondere durch die sudetendeutschen Flüchtlinge in Schwaben etabliert. So wie die Menschen mittlerweile bayerisch geworden sind, so sind es auch ihre Polkas und Walzer. Und aus musikalischem Krempel ist im Laufe der Jahre klangheimlich hochwertiges Tonmaterial geworden. So gesehen haben auch Sänger wie Andy Borg und dessen Lieder noch eine Chance auf die Ewigkeit.
Die Wurzeln
Volksmusik steht noch heute für traditionelle, häufig schriftlos überlieferte Musik. Johann Wolfgang von Goethe behauptete, Volksmusik sei anonym aus dem Volk heraus entstanden. Er widerlegte sich aber selbst und schrieb eigene Volkslieder. In Bayern machten Wastl Fanderl und Kiem Pauli den Begriff ab den 1930er Jahren populär. Sie sammelten Lieder und moderierten Sendungen im Radio und im Fernsehen und bestimmten, was echt ist und was nicht. Beide waren Streiter für die reine Volksmusik, die sie mit enormem Eifer gegen eine Verwässerung verteidigten. Ihr Erbe wird von Musikwissenschaftlern heute kritisch betrachtet, da sich die Neigungen der jungen Generation von den engen Vorstellungen gelöst haben. Als Stilformen der Volksmusik gelten unter anderem Walzer, Polka, Marsch, Ländler, Boarische und Zwiefache. Text: jok