Der Fluchtversuch von Stephan S. war wie sein schillerndes Leben zuvor: billige „Action“ mit maximalem Show-Effekt, aber ohne Rücksicht auf Verluste. Auf dem Gang des Landgerichts riss sich der trainierte Bodybuilder trotz Handschellen von den Aufpassern los. Dann stürzte sich Stephan S. – wie ein Stuntman in einer Vorabendserie – Hals über Kopf aus dem Fenster des Frankfurter Gerichts. Er fiel sechs Meter in die Tiefe. Dann schlug der Unterfranke hart auf dem Boden der Realität auf – und kam ziemlich ramponiert ins Krankenhaus.
Wieder einmal hatte Stefan S. alle Blicke auf sich gezogen – wie mit Kompagnon Jonas K. bei gemeinsamen Geschäften der Firma S & K, benannt nach den Initialen des Kollegen. Den Sturz aus großer Höhe samt Bauchlandung kann man symbolträchtig nennen: Davon scheint sich der Mann, der mit fünf Geschäftspartnern auf der Anklagebank sitzt, leidlich erholt zu haben. Am tiefen Fall aus seiner Luxuswelt ins graue Dasein eines Untersuchungshäftlings kaut er noch. Der Fenstersprung von 2013 bleibt in Erinnerung, weil er zum früheren Seifenopern-Leben der unterfränkischen S & K-Gründer passt.
Inzwischen stehen die einstigen Jungstars der Finanzberater-Szene im Mittelpunkt von Deutschlands spektakulärstem Wirtschafts-Strafverfahren. Das Thema ist komplex, die Wege des Geldes verschlungen, und die meisten Angeklagten sind nicht kooperativ. Der Mammut-Prozess braucht Zeit und bindet Kräfte, ohne dass ein Ende absehbar wäre – ähnlich wie das NSU-Verfahren in München.
Insider spotten, in Unterfranken hätten sich Juristen erleichtert bekreuzigt, als der Kelch dieses Verfahrens an ihnen vorübergegangen war. Selbst die Frankfurter Justiz mit ihren Ressourcen plagt sich mit den raffinierten Geschäften. Nur kurz ermittelte die Staatsanwaltschaft Aschaffenburg gegen Jonas K.: Er wurde verdächtigt, sich einen Doktortitel gekauft zu haben, um respektabler zu wirken. Doch was ist das gegen die Vorwürfe um einen 240-Millionen-Euro-Betrug, die in Frankfurt erhoben werden?
In Schweinfurt horchte man auf, als unter den Immobilien, mit denen S & K Geschäfte machte, auch die Sachs-Villa auftauchte – für 1,7 Millionen Euro ersteigert, präsentierte sie S & K bald zum mysteriös gesteigerten Verkehrswert von 6,7 Millionen Euro. Der Umfang der Geschäfte hätte den Fall eher bei der Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft in Würzburg landen lassen. Doch die wickelte fast zeitgleich und zügig das Großverfahren wegen Anlagebetruges der Frankonia-Gruppe in Dettelbach (Lkr. Kitzingen) ab. S & K blieb bei den Ermittlern am Firmensitz Frankfurt.
Die dortige Staatsanwaltschaft hat eine Anklageschrift in der Stärke mehrerer Telefonbücher vorgelegt, über 3000 Seiten. An der beißt sich die 22-köpfige Verteidigung mit einer professionellen Verbissenheit fest, wie man es selten erlebt. Nach einem Jahr des Streitens um Formalien hat die Beweisaufnahme noch gar nicht richtig begonnen. „Wir gehen alle davon aus, dass das Verfahren drei Jahre dauert“, hatte Anwalt Ulrich Endres vielsagend zu Beginn im Herbst 2015 prognostiziert. Er verteidigt Jonas K., seine Worte ließen den Schluss zu, dass er entschlossen war, zum Ausschöpfen dieses Zeitplanes beizutragen. Inzwischen sagt ein anderer Anwalt: „Wie das zu Ende gehen soll, kann ich mir nicht vorstellen.“
Schneeballsysteme erfreuen sich großer Beliebtheit auf dem – lange Zeit fast ungeregelten – Grauen Kapitalmarkt. Wenn Kunden auf Auszahlung bestehen, werden dafür Einzahlungen neuer Kunden benutzt, um zu verbergen, dass die angekündigten Traumzinsen nicht erzielt worden sind. Bei S & K sollen 11 000 Kunden geschädigt sein. Sie wurden mit Traumzinsen geködert wie zuvor bei Firmen wie der Göttinger Gruppe oder Phönix, die das Vertrauen in Finanzberater tief erschüttert haben. Pro Jahr entsteht nach Schätzung des Bundeskriminalamtes durch „Anlüge-Berater“ (den Begriff prägte ein Würzburger Anwalt) ein Schaden von 20 bis 25 Milliarden Euro – und meist sehen die geprellten Anleger am Ende wenig bis nichts von ihrem Geld wieder.
Das Besondere an S & K war nicht, dass das Unternehmen Kundengelder in die eigene Tasche umleitete, sondern dass S. und K. ihr so bezahltes Luxusleben so ungehemmt zur Schau stellten. Das war 2013 mit einem Schlag zu Ende. 1200 Polizisten durchsuchten 130 Häuser – auch in Unterfranken. Jonas K‘s Haus bei Miltenberg stürmte ein Sonderkommando per Hubschrauber, als werde ein Terroristen-Nest ausgehoben.
Rasch kursierten Bilder, die zeigten, wie die kaum 30 Jahre alten Gründer von S & K in Saus und Braus gelebt hatten: Villen, Ferraris und leicht bekleidete Mädchen; Partys mit Elefant, Promi-Double und einer Blondine im überdimensionalen Champagnerkelch. Auch die mutmaßlichen Betrüger sollen gebadet haben – in Bargeld wie Dagobert Duck.
Dagegen geht es im Gerichtssaal E 1 des Landgerichts Frankfurt bieder zu. Die anfängliche Erwartung eines spektakulären Prozesses ist zäher Langeweile gewichen. Die überdimensionale Anklageschrift ist schwer zu verarbeiten. Nur eine abgespeckte Version von 1700 Seiten wurde zu Prozessbeginn im September 2015 verlesen – was auch schon mehr als drei Monate dauerte.
Bereits das bot der Verteidigung Ansatzpunkte, den Fortgang auszubremsen. Und der selbstbewusst auftretende Jonas K. (auch er ist Unterfranke aus dem Raum Miltenberg) beschuldigte von der Anklagebank aus die Staatsanwaltschaft: Sein System habe funktioniert. Erst die Razzia habe ein florierendes Unternehmen zerstört. „98 Prozent der Behauptungen in der Anklage sind Schwachsinn“, erklärte er.
So tragen Anlageberater oft noch vor Gericht mit breiter Brust die Überzeugung vor sich her, die Formel für schnellen Reichtum gefunden zu haben, während die Welt ihre Genialität nicht erkennt. Man muss ihnen das Gegenteil mühsam nachweisen, wie etwa das Verfahren um den Aschaffenburger Anlagebetrüger Helmut Kiener gezeigt hat.
Nach einem Jahr ist nicht abzusehen, wohin sich das Verfahren entwickelt. Beteiligte sprechen von einem „kaum noch zu bändigenden Prozessmonster“. Die Gefahr bestehe, dass der Rechtsstaat am Ende kapituliere – vor einer Liste von 900 Zeugen, vor Fristen, dem Beschleunigungs-Gebot in Haftsachen und all den anderen Vorschriften, die ihren Sinn haben. In diesem Fall schnüren sie der Justiz wie Mühlsteine am Hals die Luft ab.
S. und K. und ihre mutmaßlichen Komplizen hatten Geld mit Häusern aus Zwangsversteigerungen gemacht. Man verkaufte sie in Teilen oder steckte sie in Beteiligungsfonds, wobei abstrus hohe Renditen versprochen worden waren. Schon die Ermittlungen nach der Razzia im Februar 2013 dauerten zwei Jahre und sieben Monate. Mit Hilfe von Wirtschaftsprüfern durchforsteten Staatsanwälte und Kripo-Beamte 100 Terabyte Daten aus 150 ineinander verschachtelten Firmen. Heraus kamen 1000 Ordner Ermittlungsakten und die mehr als 3000 Seiten Anklage.
Die Staatsanwaltschaft nennt das Sorgfalt, Kritiker sagen: Die Ermittler hätten Gutes gewollt, es aber in ihrem Eifer, nur ja nichts zu vergessen, übertrieben – und nun drohe die Justiz an dem Brocken zu ersticken. Bei der Frage nach der richtigen Vorgehensweise bei so umfangreichen Wirtschafts-Strafverfahren gehen die Meinungen weit auseinander.
Einer, der seit vielen Jahren in Großverfahren tätig ist, sagt: Wichtig sei, den Ermittlungen Struktur und Richtung zu geben und der Mut, Nebensächliches zunächst zu ignorieren. „Man darf nicht einfach nur treu und brav vor sich hin sammeln wie ein Hamster,“ sagt er. „Sonst steht man am Ende mitten in einem Meer von Informationen und weiß nicht, in welche Richtung man segeln soll.“
Ein anderer, der als Staatsanwalt und Richter auch viel Erfahrung mit Großverfahren hat, hält das für gesetzwidrig: Man habe eine Pflicht zur umfassenden Aufklärung und könne sich nicht aussuchen, welchen Teil der vorwerfbaren Taten man sich als gut verhandelbares „Filetstück“ herausschneidet.
Es gebe zwar die Möglichkeit, am Ende der Ermittlungen unwichtige Punkte abzutrennen und zugunsten der Hauptvorwürfe einzustellen. „Aber wer sagt uns denn, ob die Frankfurter Staatsanwaltschaft nicht das Filetstück präsentiert hat – aber halt ein besonders großes, schwer zu verdauendes?“
Die lange Auflistung von Vorwürfen und Geschäften diene „laut Strafprozessordnung der Information der Beteiligten und der Öffentlichkeit“, sagt der Sprecher des Landgerichts Werner Gröschel zu der schon seit geraumer Zeit kursierenden Kritik. „Die mehr als 100 Jahre alte Strafprozessordnung ist halt nicht für Fälle wie S & K gemacht“, bekennt zerknirscht einer der Beteiligten.
Daran beißen sich die Verteidiger fest, mit einer endlosen Folge von Befangenheitsanträgen, Zuständigkeitsrügen, Anträgen auf Haftentlassung. Zwei Staatsanwälte, die die Anklage mit verfasst haben, sind nicht mehr dabei, auch eine Ergänzungsrichterin. Man beschuldigt sich wechselseitig, das Verfahren zu verschleppen und stellt Anträge, die erneut verschleppen. Sollte noch ein Ergänzungsrichter ausfallen, hat das Gericht ein Problem, den Prozess per Urteil zu beenden.
Stephan S. schweigt verbissen. Jonas K. dagegen lieferte über Monate hinweg Erklärungen zur Anklageschrift, die wie eine Werbe-Präsentation für S & K wirkten. Seit dreieinhalb Jahren sitzen die beiden in U-Haft – angesichts einer drohenden Höchststrafe im zweistelligen Bereich mag das vertretbar scheinen. Aber wie lange noch, ehe das Gericht sie freilassen muss?
Die Verteidigung moniert, ihr würden Akten vorenthalten. Ein Staatsanwalt antwortete: „Bei solchen Datenmengen können nicht alle Unterlagen Bestandteil der Akte sein! Wir müssten sämtliche Prozesse in Hessen aussetzen, wenn wir alles kopieren würden.“ Aber die Staatsanwaltschaft überlässt es auch dem Gericht, nun zu entscheiden, über welche Teile der gigantischen Anklage verhandelt und Zeugen geladen werden sollen.
Dann ist ein Angeklagter krank. Oder es gibt Streit über eingestellte (oder unter anderem Aktenzeichen weiterlaufende) Ermittlungen. Da geht es juristisch und bis an die Grenze der Unhöflichkeit zwischen Anklage und Verteidigung hin und her, dann bekommt eine Verteidigerin die nachgeforderten Akten. Prompt fordert sie eine lange Unterbrechung, um sich einarbeiten zu können. Als nächstes wollen auch ihre Kollegen die Akten haben. Der Streit endet mit der Forderung, den Prozess abzubrechen.
Schon zuvor hatte eine Richterin in Gedanken während der Verhandlung kleine Kästchen auf ein Blatt Papier gemalt. So könne sie ja kaum der spannenden Verhandlung folgen, folgert ein Verteidiger – und stellt einen Befangenheitsantrag. Der wird abgelehnt. Doch er zeigt, auf welchem Niveau sich der S & K-Prozess inzwischen bewegt: Kleinkariertes auf-der-Stelle-treten.