Am Südufer des Chiemsees herrschen andere wirtschaftliche Gesetze. Hier in Übersee kommen die Anteilseigner zur Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft zusammen, deren Hauptzweck nicht das Streben nach immer höheren Renditen ist, sondern „boarischer Wirtshauskultur“. Entscheidet bei einem Unternehmen wie Siemens die Höhe des Gewinns über Wohl und Wehe des Vorstands-Chefs, sind es bei der D‘Feldwies Wirtshaus AG bodenständigere Werte wie Gemütlichkeit, Geselligkeit und die Qualität der Kruste des Schweinsbratens.
Freibier für die Josefs
Sind Siemens-Shareholder auf Zauber-Formeln wie Ebit und Cash Flow fixiert, steht bei der Chiemgauer Gesellschaft die Frage im Vordergrund, ob das Bier des Hofbräuhauses Traunstein aus dem Holzfass besonders verträglich sei. Letztere These vertritt nachdrücklich der Vorstand der Wirtshaus AG. Wolfgang Gschwendner ist ein gestandenes Mannsbild: groß, breit, bärtig, sprachmächtig, imposant. Er ist der gastropolitische Kopf der speziellen Unternehmung. Am Tag der Hauptversammlung, die immer am 19. März, dem Tag des heiligen Josef, stattfindet, genießt der 66-Jährige seinen großen Auftritt.
Der Gschwendner. Wie er nur genannt wird, steht mit einem Mikrofon vor der Bühne des großen Wirtshaussaals. Eng gedrängt sitzen die Aktionäre an den Tischen. Auch auf der Empore haben Miteigentümer der Gesellschaft Platz genommen. Von oben hängen Hopfendolden herab. Über der Bühne steht: „Treu dem guten alten Brauch.“ Hinter dem roten Samtvorhang spielt sich die Hauptversammlungs-Blaskapelle ein. Die meisten Gäste haben ein Weißbier vor sich stehen. Später kommt das ein oder andere hinzu, wenn jeder Aktionär gratis Weißwürste samt Brezen essen darf. Die Getränke müssen sie selbst zahlen. Nur die Josefs, Seppen und Beppen dürfen an ihrem Festtag auf Kosten der AG den Durst stillen. Die Kandidaten sind den Bedienungen meist bekannt. Es nützt nichts zu behaupten, man sei ein Josef oder eine Josefine. Freibiergesichter würden rasch auffliegen. Aber es wäre sowieso vermessen, die ohnehin satte Rendite weiter steigern zu wollen. Denn für jede der inzwischen schwer zu bekommenden Aktie im Wert von 100 Euro dürfen die Inhaber der Papiere einmal im Jahr im Wirtshaus essen gehen und dazu etwas trinken. So dauert es nur etwa acht Jahre, bis ein Aktionär das Geld, was er für ein Wertpapier der Wirtshaus AG, wieder reingegessen und getrunken hat. Eine wahrlich satte Rendite. Eine solch sättigende Rendite wird man in der Welt der normalen Aktiengesellschaften nur schwer finden. Wer etwa seinen Dividendengutschein im März oder April einlöst, darf sich über Ochsenbackerl in Rotweinsoße, dazu Gemüse und Spätzle freuen. Spätzle, keine Knödel? Die Wirtin der erstmals 1554 erwähnten Feldwies kommt aus Augsburg. Beate Stang hat sich in den von der Aktiengesellschaft liebevoll restaurierten Gasthof verliebt und wird als Schwäbin nach einer Eingewöhnungsphase längst von den Oberbayern akzeptiert. Natürlich gibt es auch Knödel. Wer im November seine Dividende aufessen will, darf sich auf Hirschgulasch mit Blaukraut und Semmelknödel freuen. All diese Speisen entsprechen der radikal „boarischen“ Wirtshaus-Philosophie von Geschwendner. In seinem Grundsatzreferat über die essenspolitischen Ziele der AG fällt der Kernsatz: „Bei uns gibt‘s keine Pommes.“ Was Gschwendner sagt, meint er so, auch seine Abneigung gegen alle Formen von Burger und sogenannten Weinkennern. Als Anwalt genießt der Mann einen legendären Ruf weit über den Landkreis Traunstein hinaus. Sie nennen ihn den „Alpen-Bossi“, auch weil er früher mit Geschick Wilderer verteidigt hat. Auch im Saal weiß er sich durchzusetzen und fordert die Aktionäre auf, ihre Smartphones schlafen zu legen: „Mir san a boarisches Wirtshaus. Da gibt‘s koa Handys.“ Bei Zuwiderhandlung droht er den heute zusammengekommenen Natural-Kapitalisten die Höchststrafe an: „Wessen Handy leit, der kriagt koa Weißwürrscht. Beim zweiten Leiten fliagt a raus.“ Die Aktionäre sind begeistert. Gschwendner bietet ihnen wieder eine Mordsgaudi. Auch seine Ausführungen zu den Grenzen, die einem höheren Bierkonsum gesetzt sind, erfüllen die Erwartungen. „Normal“, so führt der Vorstand aus, „trinkt a jeder ned mehr als zwoa Bier, weil er sein Auto und seine Frau dabei hat“.
Fränkische Aktionärsgruppe
Die extra aus Franken angereiste Männer-Aktionärsgruppe ist begeistert. Ihre bayerischen Tischnachbarn rufen enthemmt: „Schwoam ma‘s obi!“ Die fränkischen Gäste waren schon öfter dabei und wissen, dass dies soviel heißt: „Runter damit und weiter im Programm.“ In solchen tief-bayerischen Momenten wähnt sich der Zuschauer wie in einem Theaterstück von Ludwig Thoma. Zur Naturaldividende kommt die Unterhaltungsdividende hinzu, zumal Geschwendner in Herbert Graus, dem Aufsichtsrats-Chef, einen komödiantischen Partner gefunden hat. Seinem Vorstand dankt er: „Du opferst Dich auf. Außerdem bist Du a guade Kunde unseres Wirtshauses.“ Beide haben eine gewisse Affinität zum Gerstensaft. Und eine fundamentale Sache unterscheidet sie etwa von Siemens-Chef Kaeser: Sie arbeiten ehrenamtlich für ihre Ess- und Trink-AG.
Die Blaskapelle spielt „Ein Prosit der Gemütlichkeit“ und die Aktionäre singen inbrünstig die Bayernhymne. Am Ende steht aber wie immer der Spaß bei der Wirtshaus AG. Aufsichtsrats-Boss Graus bittet die Aktionäre das Haus nicht mit freudiger Miene zu verlassen: „Sonst glaubt das Finanzamt, dass wir a Vergnügungssteuer zahlen müssen.“