Der Mythos lebt. Immer dann, wenn die in Bayern allein regierende CSU ihren Fraktionschef im Landtag wählt, wird er von Neuem erzählt: dass ein Ministerpräsident sich davor hüten soll, einen möglichen Rivalen zum Fraktionschef zu machen, weil der ihm das Regieren zur Hölle machen, ja ihn im Ernstfall sogar stürzen und ablösen könnte. Ein Mythos ist das insofern, als es das noch nie gegeben hat. Noch nie seit 1945 hat ein CSU-Fraktionschef einen CSU-Ministerpräsidenten im Amt abgelöst. Alles mögliche andere freilich hat es schon gegeben: stürzen lassen, ärgern, in die Schranken weisen, hängen lassen, ausbremsen, blockieren. Und wahr ist auch: Noch nie hat ein CSU-Ministerpräsident einen Rivalen zum Fraktionschef gemacht.
Das ist nach allgemeiner Überzeugung im Landtag auch der Grund, warum Ministerpräsident Horst Seehofer heute weder die oberbayerische CSU-Bezirksvorsitzende Ilse Aigner noch Finanzminister Markus Söder für das Amt des Fraktionsvorsitzenden vorschlagen wird. Als Topfavorit gilt, wie berichtet, Staatskanzleichef Thomas Kreuzer. Der Jurist aus Kempten hat als früherer Fraktionsvize Erfahrung mit der Führung der CSU-Fraktion, genießt Respekt bei den Abgeordneten und steht loyal zu Seehofer. Spekuliert wird aber auch über Umweltminister Marcel Huber, der bei Seehofer ebenfalls hoch im Kurs steht.
Aigner und Söder dagegen gelten neben Innenminister Joachim Herrmann als potenzielle Kandidaten für Seehofers Nachfolge. Einen der Kronprinzen zum Fraktionschef zu machen, käme in dieser speziellen Situation einer Vorentscheidung gleich. Und es würde vermutlich Seehofers eigene Position im Machtgefüge der neuen Regierung schwächen. Eine Konstruktion, die von vorneherein auf Rivalität angelegt ist, wäre verheerend.
Macht und Einfluss des Chefs einer Fraktion, die mit absoluter Mehrheit regiert, beruhen auf mehreren Faktoren. Er wird zwar in der Regel vom Ministerpräsidenten vorgeschlagen, aber gewählt wird er von den Abgeordneten. Er kann also, anders als ein Minister, vom Regierungschef nicht entlassen werden. Er ist formal unabhängig und keiner Kabinettsdisziplin unterworfen. Er hat die Freiheit, Themen auf die Tagesordnung zu setzen.
Im politischen Alltag kommt dem Fraktionschef zudem eine Schlüsselrolle zu. Er ist das Bindeglied zwischen Regierung und Mehrheitsfraktion, sorgt für Ordnung, stellt Konsens her, organisiert Unterstützung und schlichtet Konflikte. So gesehen hat er mehr Einfluss als ein Minister, auch wenn dies in der Öffentlichkeit nur selten sichtbar wird.
Wenn seine Macht oder seine Ohnmacht dann doch einmal sichtbar werden, dann ist allerdings Feuer am Dach. Beispiele dafür gibt es zuhauf. Im Jahr 2002 stellte sich CSU-Fraktionschef Alois Glück in der Frage, wer Intendant des Bayerischen Rundfunks werden soll, offen gegen Ministerpräsident Edmund Stoiber. Es kam fast zum Eklat. Glück zog alle Register und setzte seinen Kandidaten durch.
Auch zwischen Stoiber und Glücks Nachfolger Joachim Herrmann kam es zu heftigen Zusammenstößen. Seine Macht zeigte Herrmann, der später Innenminister wurde, im November 2005. Stoiber hatte sich damals zunächst nach Berlin verabschiedet, um Superminister in der Großen Koalition zu werden, dann aber wieder alles rückgängig gemacht. Die Landtagsfraktion war in hellem Aufruhr. Herrmann sprach Klartext, rechnete mit Stoiber ab und forderte fast ultimativ einen neuen Regierungsstil. Stoibers Stern begann zu verblassen.