Rot ist kein gutes Zeichen. Rot heißt: Die Viruslast steigt. Und auf der Karte, auf denen mehrere bayerische Regionen eingezeichnet sind, sieht man diese Farbe relativ oft. Die Proben, auf denen diese Zahlen beruhen, stammen allerdings nicht aus Rachen- und Nasenabstrichen, sondern aus dem Abwasser. Denn selbst da hinterlässt das Coronavirus Spuren. Winzige Bestandteile seines Erbguts dümpeln in einer trüben Suppe durch die Kanalisation, in die sie durch die Toiletten gelangt sind.
An 21 Standorten in Bayern werden seit einiger Zeit Wasserproben genommen, analysiert und in Grafiken aufbereitet. Und die zeigen eben: Das Virus ist nicht so recht kleinzukriegen. In mehreren Regionen war in letzter Zeit eine deutliche Zunahme zu sehen, in Berchtesgaden etwa um fast 57 Prozent in vier Wochen, in Schweinfurt um rund 21 Prozent. Die Zahlen sind seit Kurzem für alle Bürgerinnen und Bürger zugänglich: Im Rahmen des Verbundprojekts Bay-VOC, das vom Freistaat gefördert wird, können die Untersuchungsergebnisse der Standorte online eingesehen werden.
Abwassergemisch wird analysiert
Einer, der sich damit beschäftigt, was das Wasser über das Virus verrät, ist Dr. Maximilian Münchhoff, Virologe am Max von Pettenkofer-Institut an der Ludwig-Maximilians-Universität München, einem der Projektpartner des Corona-Überwachungsnetzwerks Bay-VOC. „Sobald die Proben gesammelt wurden – das geschieht ein Mal pro Woche-, werden sie ins Labor gebracht, wo sie analysiert werden“, erklärt er. „In einem ersten Schritt werden aus dem Abwassergemisch die Virus-Nukleinsäuren extrahiert, also die Erbgut-Informationen.“ Sobald die aufbereitet wurden, folgen verschiedene Analyseschritte. Zum einen geht es um die Quantität, also die Frage, wie hoch die Virus-Belastung im Abwasser ist. Zum anderen darum, welche Varianten zirkulieren. Dafür wird das Genom sequenziert.
Dr. Helmut Blum vom Genzentrum der LMU macht genau das: Das Erbgut der Viren, das aus dem Abwasser geholt wurde, genauer bestimmen. Enorm vereinfacht ausgedrückt funktioniert das so: Die Genome werden in kleine Stücke eingeteilt und vervielfältigt. Jedes dieser Stücke wird dann auf die Abfolge der Bausteine, Nukleotide genannt, untersucht. „Jede einzelne Virusvariante hat charakteristische Veränderungen an verschiedenen Positionen im Genom, anhand derer ihr Anteil im Abwasser berechnet werden kann“, erklärt Blum. Im Moment gebe es ein großes Gemisch an Omikron-Untervarianten. Am verbreitetsten sind in Bayern derzeit BA.5, XBB.1.5. und BQ.1.
Die Ergebnisse seien natürlich Ist-Zustände, sagt Virologe Münchhoff. „Aber daraus kann man einen Trend ablesen. Man sieht im Abwasser sehr früh einen Anstieg. Und wenn das so ist, kann man davon ausgehen, dass die Inzidenz auch steigt.“ Da nur noch sehr wenig getestet würde und man kaum noch einen Überblick habe, wer tatsächlich infiziert ist, biete die Analyse aus dem Abwasser eine breitere Möglichkeit, Anstiege im Infektionsgeschehen früh zu erfassen. Neu eingeschleppte Varianten ließen sich auch schon im Abwasser entdecken, bevor man sie in einzelne Patientenproben findet. Was nicht möglich ist: Rückschlüsse darüber zu ziehen, wie pathogen – also wie krankmachend – die Varianten sind. „Da ist es weiterhin wichtig zu wissen, welcher Patient mit welcher Variante infiziert war. Dazu müssen Patientenproben untersucht werden.“ Das Abwasser-Verfahren kann bei vielen Viren angewandt werden. In anderen Teilen der Welt wird so etwa die Verbreitung des Polio-Virus verfolgt. Jüngstes Beispiel: Im September hatte New York den Notstand ausgerufen, weil im Abwasser vermehrt die Erreger der Kinderlähmung gefunden wurden.
Virologe ist nicht alarmiert
Zurück zur Karte. Und den roten Markierungen. Trotz des Anstiegs in einigen Regionen ist Virologe Münchhoff nicht alarmiert. „Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem es in der Bevölkerung eine breite Immunität gibt, durch Impfungen und durchgemachte Infektionen.“ Was man jetzt beobachte, seien Re- oder Durchbruchsinfektionen nach Impfungen. „Und der Schweregrad dieser Verläufe ist zum Glück wesentlich geringer als bei Personen, die infiziert wurden, ohne dass sie eine vorherige Immunisierung hatten.“ Derzeit sehe man zudem, dass die Hospitalisierungsraten nicht mehr parallel zu den Inzidenzen verlaufen. „Die SARS-CoV-2-Infektion ist aber nach wie vor ein medizinisch-klinisch relevantes Problem, insbesondere für Risikopersonen“, sagt der Virologe. „Aber wir sind tatsächlich im Übergang in die Endemie und zuversichtlich, dass sich die Lage im Frühjahr, wenn auch noch die saisonale Komponente hinzukommt, weitestgehend entspannt.“