Radeln während der Deutschstunde? Wozu? Ein Klassenzimmer ist doch keine Muckibude! Das, was auf den ersten Blick so unfassbar scheint, ist für die Schüler der Klasse 5 a des Friedrich-Dessauer-Gymnasiums in Aschaffenburg derzeit Schulalltag. Dem Leiter des Fachbereichs Sport, Tobias Bauer, hat die Idee eines Wiener Sportwissenschaftlers aus dem Jahr 2007 so gut gefallen, dass er das Projekt „Ergometerklasse“ nach Unterfranken geholt hat.
Fünf Ergometer stehen jetzt im Klassenzimmer der 5 a, auf denen die Schüler im Wechsel bis zu 30 Minuten durch den Unterrichtsstoff radeln. Nicht schweigend oder schreibunfähig. Nein! Es sind extra Schreibpulte und Bücherstützen an den Spezial-Ergometern angebracht, sodass die Schüler auch mitschreiben und mitlesen können. Und wer sonst nur gewohnt war, wegen Schwätzens oder Träumens ermahnt zu werden, wird jetzt vom Lehrer zum pausenlosen Treten animiert.
Bewegung ist gerade im Klassenzimmer notwendig
Dass es sich dabei um keinen Firlefanz oder keine fragwürdige Lernmethode handelt, ist wissenschaftlich belegt. Studien haben gezeigt, dass Bewegung nicht nur im Sportunterricht und in den Pausen notwendig ist, sondern eben auch und gerade im Klassenzimmer. Durch die Bewegung wird genau die Menge Blut ins Gehirn gepumpt, die für die Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit notwendig ist. Langes Stillsitzen im Unterricht oder am Schreibtisch zu Hause mag für vieles gut sein, für die Konzentration ist es das definitiv nicht.
Bewegungspausen, das bestätigt Gabriel Duttler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sportwissenschaft der Uni Würzburg, auf Anfrage dieser Redaktion, seien sowohl aus physiologischer als auch pädagogischer Sicht absolut richtig und wichtig. „Ob das jetzt unbedingt mittels Ergometer passieren muss, weiß ich nicht, aber aus sportmedizinischer Sicht ist das Projekt absolut begrüßenswert.“
Wichtig, und deshalb zweifelt Duttler ein bisschen am Ergometer als Mittel zum Zweck, sei es, den Kindern eine langfristige Bindung zur Bewegung zu ermöglichen. „Und die entsteht aus motivationspsychologischer Sicht mittels Vorlieben und Freude an bestimmten Bewegungsarten.“ Freiwilligkeit sei zudem wichtig. Die sei hier nicht gegeben. „Die Schüler werden ja aufgefordert, sich aufs Rad zu setzen und eine vorgeschriebene Zeit lang in die Pedale zu treten.“
Oft lassen sich Bewegungen gut mit Lerninhalten verknüpfen
Deshalb sei es bei solchen Projekten umso wichtiger, sie entsprechend im Unterricht zu inszenieren, sie einzubetten und zu reflektieren. „Dann sehe ich hier großes Potenzial für ein fächerübergreifendes Projekt!“ Das könne dann in Biologie genauso gut beleuchtet werden wie in Mathe. Wie hoch ist der Puls, wie viele Kilometer schafft man bei welcher Geschwindigkeit? Die Lernmotivation sei dann weit höher, das Projekt könne dann über rein physiologische Effekte hinaus nachhaltig wirken.
In Aschaffenburg wirkt das Projekt zumindest schon mal jahrgangsübergreifend. So gibt es ein P-Seminar Ergometer, in dem angehende Abiturienten das Projekt begleiten und den Schülern bei der Umsetzung helfen. Auch im Bayerischen Kultusministerium wird Bewegung im Unterricht begrüßt. Dort hat man schon vor Jahren das Projekt „Voll in Form“ für Grundschulen gestartet. Dazu gehören Ernährungserziehung und umfassende Sportangebote, aber eben auch Bewegung im Klassenzimmer.
Wurden früher Hefte oder Kopien grundsätzlich vom Lehrer ausgeteilt, so holen sich die Schüler ihre Unterlagen heute selbst vorne ab oder durchlaufen regelmäßig Lernstationen im Klassenzimmer. Ob im Rhythmus klatschen, stampfen oder hüpfen – oft lassen sich Bewegungen gut mit Lerninhalten verknüpfen.
„Die Grundschüler sollen an jedem Unterrichtstag, an dem kein Sportunterricht stattfindet, an einer intensiven Bewegungsphase von mindestens 20 Minuten teilnehmen“, heißt es auf Anfrage dieser Redaktion im Ministerium.
Lerngruppen - Lehrer stoßen bei der Umsetzung an ihre Grenzen
Für das Stillsitzen beim Lernen gibt es Richtwerte: So sollte bei fünf- bis siebenjährigen Kindern nach 15 Minuten eine Bewegungspause erfolgen, bei sieben- bis zehnjährigen Schülern nach 20 Minuten. Zehn- bis 15-Jährigen sollte man nach spätestens 30 Minuten eine Bewegungspause gönnen. Wenn Schüler anfangen, auf dem Stuhl zu kippeln, in die Luft zu starren oder gar den Kopf auf die Tischplatte zu legen, ist es Zeit, aufzustehen und sich zu bewegen.
Längere statische Handlungen führen bei Kindern zu Störungen des Blutrückstromes und einer Verflachung des Stoffwechsels. Vor allem bei jüngeren Kindern kann es zu Anspannung kommen. „In den Grundschulen hat sich da in den letzten Jahren schon viel getan“, meint Sportwissenschaftler Duttler. Eltern und Lehrer sollten aber auch bei älteren Schülern immer im Auge behalten, dass man bei körperlichem Wohlbefinden definitiv erfolgreicher lernen kann. Doch mit großen Lerngruppen in kleinen und oft hellhörigen Klassenzimmern stoßen Lehrer bei der Umsetzung schnell an ihre Grenzen. Im Aschaffenburger Friedrich-Dessauer-Gymnasium ist das aber kein Problem – der Raum ist groß genug für das ja auch geräuschlose Radeln zum schulischen Erfolg.
Ob es in naher Zukunft auch Hantel-, Fatburner- oder Hip-Hop-Klassen geben wird, steht freilich noch in den Sternen. Bereits nachgewiesen ist, dass sich gerappte Lateinvokabeln bei Jugendlichen besser einprägen. Genau wie das gesungene Einmaleins, mit dem etwa Sängerin Nena schon seit Jahren Schüler wie Eltern gleichermaßen begeistert.