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Mediensucht: Was ist normal und wo fängt die Sucht an?

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Mediensucht: Was ist normal und wo fängt die Sucht an?

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    Vergleich der Kindheit vor ein paar Jahren mit heute: Kinder zwischen acht und 17 Jahren sind inzwischen mit der Multimediatechnik vollkommen vertraut. Die meisten von ihnen können sich ein Leben ohne Internet, Facebook und Smartphone nicht mehr vorstellen.
    Vergleich der Kindheit vor ein paar Jahren mit heute: Kinder zwischen acht und 17 Jahren sind inzwischen mit der Multimediatechnik vollkommen vertraut. Die meisten von ihnen können sich ein Leben ohne Internet, Facebook und Smartphone nicht mehr vorstellen. Foto: Illustration: Max Grob, Alex Kowalski

    Es gibt den einen: den Schüler, der sein Smartphone immer in der Hosentasche trägt wie der Großvater seinen Pfeifentabak; der mit spielerischer Leichtigkeit die Neuen Medien bedient und den man trotzdem am Nachmittag mit seinen Freunden auf dem Fußballplatz antrifft. Es gibt aber auch den anderen: den Schüler, der sein Zimmer nicht mehr verlässt, der sich nicht einmal mehr wäscht und der seine Freunde durch virtuelle Profile (Avatare) ersetzt, indem er zehn Stunden am Tag vor dem Computer verbringt.

    Was ist normal und wo fängt die Sucht an? Mit dieser Frage beschäftigen sich momentan Wissenschaftler, Sozialpädagogen, Lehrer, Mitarbeiter von Suchtberatungsstellen und Jugendbeauftragte deutschlandweit. Dabei scheint den meisten Pädagogen ein Großteil dessen zu entgehen, was die Lebenswelt von Jugendlichen im Internet ausmacht.

    Viele Eltern und Lehrer stehen den Neuen Medien ablehnend und skeptisch gegenüber

    Medienwissenschaftlerin Maren Würfel von der Universität Erfurt bringt das Thema folgendermaßen auf den Punkt: „In der Antike hieß es einst, Schreiben verdirbt die Rede. Später sprach man davon, Kino macht aggressiv. Bei der Erfindung des Telefons unkten kritische Stimmen, telefonieren weicht das Gehirn auf. Schon immer in der Geschichte der Medien haben Neue Medien den Menschen Angst gemacht.“ Heute ist das neue Medium das Internet. Viele Jugendliche sind mit ihrem Smartphone immer „on“, sprich: online. Viele Eltern und Lehrer stehen dieser Entwicklung ablehnend, unwissend und skeptisch gegenüber, so die Wissenschaftlerin.

    Dabei sei das Netz für Jugendliche ein realer sozialer Lebensraum, in dem sie mit Freunden kommunizieren, an ihrer eigenen Identität arbeiten (zum Beispiel mithilfe von Profilen in sozialen Netzwerken) und sich die Zeit vertreiben. Solange dies selbstbestimmt und kritisch geschehe und die Jugendlichen auch offline Freunde, Interessen und Ziele verfolgten, sei das völlig normal, so Maren Würfel.  

    Jugendliche nutzen die Neuen Medien als Hilfsmittel zur Identitätsbildung

    Im Gegenteil: Früher wurde die eigene Identität oft schon dadurch festgelegt, in welchem Ort man geboren wurde oder welchen Beruf die Eltern ausübten. „Heute haben Jugendliche viele Freiheiten und müssen viel mehr Entscheidungen treffen“, sagt Würfel. „Wer bin ich? Wo will ich leben? Mit wem teile ich meine Interessen?“ – all dies sei heute nicht mehr festgelegt und kann von Jugendlichen frei bestimmt werden. Neue Medien dienten Jugendlichen als Hilfsmittel, um sich weltweit mit anderen zu vernetzen, Informationen auszutauschen und Freunde zu finden.

    Jannis Wlachojiannis von der Berliner Beratungsstelle „Lost in Space“ räumt mit dem Vorurteil auf, Jugendliche würden sich vor dem PC abkapseln. „Meist haben Jugendliche nur dann keine Lust, über das, was sie am PC treiben, zu reden, wenn sie wissen, dass die Gegenseite ohnehin kein Verständnis hat und sie von vorneherein auf Ablehnung stoßen“, so der Sozialpädagoge. Jochen Wahler, Lehrer an der Mittelschule in Marktbreit, bestätigt: Facebook spielt auch in den Schulen während der Pausengespräche eine immer wichtigere Rolle. Eltern fit zu machen für die Neuen Medien und Schüler über die Risiken aufzuklären – diesen Aufgaben müssten sich Lehrer stellen, so der Pädagoge.  

    "Pädagogen ins Netz" (Lambert Zumbrägel, Würzburger Medienpädagoge)

    Doch oft ist gerade das Gegenteil der Fall: Facebook ist für viele Eltern und Lehrer eine ferne Welt. Viele haben noch nie eine Seite in dem sozialen Netzwerk gesehen. Der Würzburger Medienpädagoge Lambert Zumbrägel meint dazu: Vieles trenne heute die Welt der Jugendlichen von jener der Erwachsenen – angefangen vom Vokabular bis hin zum technischen Wissen. „Pädagogen ins Netz“, lautet deshalb der Appell von Zumbrägel. Nur wer sich mit den Neuen Medien auskennt, könne mit seinen Schülern und Kindern auf Augenhöhe diskutieren, mögliche Gefahren erkennen und Sucht von normalem Verhalten unterscheiden. Denn: „So selbstverständlich und ungezwungen Kinder und Jugendliche heute auf die Neuen Medien zugreifen, so unbekümmert nehmen sie auch die damit einhergehenden Risiken in Kauf“, sagt Robert Scheller, Leiter des Jugend-, Familien- und Sozialreferats der Stadt Würzburg.

    Markus Wirtz, Sozialpädagoge der Drogenhilfe Köln, erklärt es genauer: Eltern und Lehrer müssten sich zu Computer und Internet ebenso positionieren können wie zu allen anderen Erziehungsfragen. Zum Beispiel habe ein Vater das Recht, seinem 15-jährigen Sohn zu verbieten, nach 22 Uhr weiter vor dem PC zu sitzen. Ein 13-Jähriger, der sowieso schon viel Zeit mit Computerspielen verbringe, brauche keinen eigenen Internetanschluss in seinem Kinderzimmer, und auch für über 18-Jährige, die noch zu Hause wohnen, dürften Eltern ihre Fürsorgepflicht – gerade beim Thema Mediensucht – nicht vernachlässigen. „Viele Eltern sind unsicher. Sie sprechen zu wenig mit ihren Kindern über die Neuen Medien oder wollen gar Konfliktsituationen vermeiden“, meint Wirtz.

    Gerade in der Region Würzburg ist die Nachfrage nach Schulungen für Eltern und Lehrer größer als das Angebot, sagt Stefanie Greß von der Evangelischen Kinder-, Jugend- und Familienhilfe. Hilfreich wäre eine Medienfachstelle sowie eine eigene Suchtberatungsstelle. Dies scheitert derzeit jedoch an der Finanzierung.  

    Psychologe Klaus Wölfling berichtet von seiner Arbeit mit internetsüchtigen Jugendlichen

    Sofort Resonanz bekommen, sich weltweit mit anderen Jugendlichen im Spiel messen, spielend Abenteuer erleben, die über die Grenzen der realen Welt hinausgehen – das mache laut Markus Wirtz vom Projekt „Online-Sucht“ der Drogenhilfe Köln Computerspiele derart attraktiv. „Sie knüpfen an die Bedürfnisse von Jugendlichen an. Sie lassen sie ein- und abtauchen in eine andere Welt“, sagt Wirtz. Dies sei an sich nicht gefährlich. Zur Gefahr werde das Internet bzw. der Computer erst dann, wenn Jugendliche keine Alternativen mehr zu diesem Medium sehen.

    Dies geschah Andreas S. (Name von der Redaktion geändert). Er ist einer der Jugendlichen, die von Dr. Klaus Wölfling, dem psychologischen Leiter der Ambulanz für Spielsucht an der Uniklinik in Mainz, betreut werden. Wölfling ist ein Forschungspionier in Deutschland, was das Störungsbild Computerspiel- und Internetsucht angeht. Er sagt, der typische Patient ist männlich und zwischen 17 und 25 Jahre alt. Er spielt acht bis elf Stunden täglich Computer, verschlechtert sich kontinuierlich in Schule und Beruf und zieht sich sozial völlig zurück. Aggressivität, Kontrollverlust und Vitamin-D-Mangel – „diese Patienten sehen kein Sonnenlicht mehr“ – sind die Folge. Auch körperlich leiden die Jugendlichen unter den Folgen des Bewegungsmangels.

    Andreas war einer von ihnen. Der junge Mann wohnte im „Hotel Mama“, war beherrscht von sozialen Ängsten und lebte depressiv und zurückgezogen. Im Video-Interview erzählt er von seinen zahlreichen Haupt- und Nebencharakteren (Avatare) im Computerspiel World of Warcraft, die zu löschen ihm unmöglich schien, „weil er so viel mit ihnen erlebt und durchgemacht habe“. Als sein Studium zu scheitern drohte, ging er in Therapie. Dann brach er die Therapie wieder ab. Er lebte ein weiteres Jahr für sein Computerspiel, bis er erneut die Psychologen aufsuchte. „Er hat gemerkt, dass die Sucht von selbst nicht wieder verschwindet, dass er etwas tun muss“, erzählt Wölfling. Etwa 20 Wochen besuchte Andreas die Gruppentherapie. Von anderen Betroffenen erhielt er Tipps und Kontakte. Mittlerweile ist er im Bibelkreis aktiv, spielt Volleyball im Verein und macht Leichtathletik. Er hat sein Studium abgebrochen, dafür aber eine Ausbildung absolviert. Andreas spielt immer noch Computer. Allerdings keine 60 Wochenstunden mehr, sondern nur noch fünf. Ganz davon lassen kann er nicht.

    2011 meldeten sich 318 Jugendliche bei der Ambulanz für Spielsucht in Mainz. 30 Prozent von ihnen waren ernsthaft abhängig. Die meisten von ihnen spielten online wie offline Rollen- oder Strategiespiele. Bei Spielen mit hohem Interaktionsgrad wie World of Warcraft, Counter-Strike, EverQuest oder League of Legends sei die Suchtgefahr am höchsten, so Wölfling. Er meint: „Das Verlockendste an Rollenspielen ist, sich in der Anonymität des Spieles eine eigene Identität zu basteln und sozialen Status zu erlangen.“ Die Gruppendynamik tue ihr Übriges. „Süchtige haben am Ende ausschließlich virtuelle Kontakte“, sagt Wölfling und fügt hinzu: „25 Prozent der Patienten brechen die Therapie wieder ab.“

    Weit weniger Menschen sind abhängig von anderen Online-Süchten wie dem Online-Glücksspiel, Cybersex, impulsivem Surfen oder sozialen Netzwerken. „Facebook- und Browserspiele, die man vom Smartphone aus spielen kann, sind jedoch im Kommen“, berichtet Jannis Wlachojiannis von der Beratungsstelle für Computerspielsucht in Berlin.  

     Mediensucht erkennen und therapieren

    Die Zahlen: Vier Prozent aller Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren sind internetsüchtig. Das geht aus einer deutschlandweiten Studie vom September 2011 hervor. Eine halbe Million Menschen gelten als internetabhängig, sagt die Bundeszentrale für politische Aufklärung. Besonders betroffen sind 14- bis 24-Jährige.

    Das Krankheitsbild: Süchtige Jugendliche verbringen bis zu zwölf Stunden täglich vor dem PC, vernachlässigen Hausaufgaben, Sport und alle anderen Freizeitaktivitäten. Sie stellen ihre Freunde, Familie und sogar die eigene Körperhygiene hintenan. Das größte Suchtpotenzial bieten Computerspiele.

    Die Diagnose: Mediensucht ist als eigenständiges Krankheitsbild bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) noch nicht anerkannt. Es handelt sich um eine Verhaltenssucht, die exzessives Verhalten und eine psychische Abhängigkeit voraussetzt. Wenige Krankenkassen übernehmen eine Therapie. Ärzte behelfen sich, indem sie Begleitphänomene wie Depressionen und Angstzustände diagnostizieren.

    Die Ansprechpartner: Eine eigene Anlaufstelle für Online-Sucht gibt es in Würzburg nicht. Unterstützung erhalten Betroffene und ihre Familien bei der Evangelischen Kinder-, Jugend- und Familienhilfe unter Tel. (09 31) 7 80 95 43, E-Mail: suchtpraevention@ekjh.de. Die Ambulanz für Spielsucht in Mainz ist auf Mediensucht spezialisiert und bietet anonyme, kostenlose Beratung, montags bis freitags, 12 bis 17 Uhr unter Tel. (08 00) 1 529 529.

    Hilfreich ist das Selbsthilfeportal www.aktiv-gegen-mediensucht.de, eine Elterninitiative mit Links zu Therapieeinrichtungen, Fachliteratur, praktischen Tipps und Aussteigerberichten.

     

    Checkliste für Eltern: Ist mein Kind abhängig?

    2008 startete mit der Ambulanz für Spielsucht an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz das bundesweit erste Modellprojekt zur Therapie und wissenschaftlichen Erforschung der Mediensucht. Die Experten haben eine Checkliste für Eltern erarbeitet. Beratungsbedarf besteht bei mindestens drei erfüllten Kriterien:

    1. Besteht bei Ihrem Kind ein unwiderstehliches Verlangen, am Computer spielen zu müssen?

    2. Hat es keine Kontrolle über Beginn, Beendigung und Ausmaß des Computerkonsums?

    3. Gab es Versuche, den Spiel- und Computerkonsum einzuschränken, die wiederholt scheiterten?

    4. Möchte Ihr Kind den Computer und die Spielkonsole immer häufiger und intensiver nutzen, zum Beispiel um Stress oder Aggressionen abzubauen?

    5. Wenn Ihr Kind den Computer nicht nutzen kann, fühlt es sich dann psychisch und körperlich unwohl?

    6. Vernachlässigt Ihr Kind wichtige schulische Pflichten und soziale Kontakte, wie Familie und Freundeskreis?

    7. Spielt Ihr Kind trotz negativer Auswirkungen verstärkt weiter?

    8. Haben Sie das Gefühl, der Computer oder die Spielkonsole dominieren Gefühle, Gedanken und Verhalten Ihres Kindes? (akl)

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