Internet-Aktivisten, Studenten, Medienschaffende, Unternehmensvertreter, Wissenschaftler, Informatiker, Journalisten, Blogger – sie alle fanden den Weg zur Social-Media-Konferenz re:publica in Berlin. Die Veranstaltung gilt als größte ihrer Art im deutschsprachigen Raum und ist inzwischen weit mehr als eine Nischenveranstaltung.
Vor dem Friedrichsstadtpalast in Berlin-Mitte drängen sich die Menschen. Wo normalerweise Senioren-Reisegruppen zu Revuetheater-Veranstaltungen eilen, bevölkert während der re:publica eine deutlich jüngere Internet-Szene die Treppen vor dem Gebäude.
Notebook auf den Knien, i-Phone am Ohr, dicke Hornbrille auf der Nase – und in der Hand einen Bio-Espresso: So sieht der modebewusste Internet-Schaffende von heute aus; blasse, schlecht gekleidete Klischee-Informatiker sind weit und breit nicht in Sicht.
Doch das einheitliche Äußere der re:publica-Besucher täuscht: Die Meinungsunterschiede innerhalb der Internet-Gemeinde sind groß, von einer homogenen Gruppe kann keine Rede sein. Gut 2500 Besucher diskutieren in 165 Einzelveranstaltungen mit 256 Sprechern aus 30 Ländern verschiedene Themen rund um das Internet und die digitale Gesellschaft – und sie tun es mit großer Emotionalität.
Wenn etwa der Blogger Jörg Kantel über das Urheberrecht spricht, digitale Daten zu Gemeingut erklärt und das Ende von Musik- und Printverlagen prophezeit, wird es im Publikum laut, schnell ist man bei hitzigen Grundsatzdiskussionen angelangt. Auch die Vorstellung eines „Slow-Media-Manifests“, das sich für mehr Aufmerksamkeit und Konzentration beim Medienkonsum ausspricht, verlangt den drei Autoren des Konzepts starke Nerven ab. Von „alter Wein in neuen Schläuchen“ bis hin zu „romantisch verklärte Scheiße“ reicht das schonungslos offene Urteil der Zuhörer.
Einhellige Zustimmung scheinen bei den Konferenzteilnehmern nur die Stargäste der Veranstaltung hervorzurufen: Der New Yorker Journalismus-Professor Jeff Jarvis, der Bremer Psychologie-Professor Peter Kruse und der Berliner Vorzeige-Blogger Sascha Lobo – sie alle werden auf der re:publica wie Rockstars gefeiert.
Wenn sich Jarvis in seinem Vortrag „The German paradox: Privacy, publicness und penises“ darüber wundert, dass die Deutschen um jeden Preis ihre Privatsphäre schützen wollen, gleichzeitig aber mit großer Unbekümmertheit ihre Geschlechtsteile in Saunas und an FKK-Stränden zur Schau stellen, johlt das Publikum. Sein leidenschaftliches Plädoyer für mehr Öffentlichkeit und der Aufruf, das eigene Wissen im Internet mit anderen zu teilen, scheinen den Nerv der Zuhörer genau zu treffen.
Auch der apart ergraute, vollbärtige Psychologie-Professor Peter Kruse verleitet das Publikum zu Jubelrufen. In seinem Vortrag macht der 55-Jährige deutlich, wie unterschiedlich das Internet in unserer Gesellschaft bewertet wird: Auf der einen Seite stellen Magazine wie der „Spiegel“ die Frage, ob das Internet doof macht, auf der anderen Seite wird es für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Für Kruse ein klares Zeichen dafür, dass der Streit ums Netz weniger eine inhaltliche Debatte als eine Debatte von Werten ist.
„Die Schärfe des Disputes pro und contra Internet ist Indikator für die Existenz unzureichend reflektierter Wertedifferenzen“, ist Kruse überzeugt. Für ihn steht außerdem fest: „Die Lawine rollt bereits zu Tal“ – der Siegeszug des Internet ist nicht mehr aufzuhalten.
Dass das Web 2.0 mit all seinen Möglichkeiten der Beteiligung und Meinungsäußerung zu mehr Selbstbewusstsein in der Gesellschaft führt und damit auch etablierte Machtstrukturen in Politik und Wirtschaft ins Wanken bringen kann, empfinden die einen als positiv, die anderen als Bedrohung. „Ihr werdet Euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen“, zitiert Kruse den Blogger Max Winde – und verlässt unter tosendem Applaus die Bühne. Nur wenige Sekunden später kann er die ersten Reaktionen im Netz nachlesen: „Peter Kruse rockt“, so die einhellige Meinung im Twitter-Forum der re:publica.
Die re:publica als ein Treffen von Bloggern, die sich wahnsinnig wichtig nehmen und am liebsten nur über sich selbst sprechen? Nach manch einem Vortrag erscheint einem dieser in der Vergangenheit oft gehörte Vorwurf an die re:publica als verständlich. Und doch hat sich die Veranstaltung im Jahr 2010 geändert: Das Programm ist sehr international ausgerichtet, die Referenten hochkarätig. Schwerpunktthemen wie Demokratie, Menschenrechte und Medienwandel lassen bloße Oberflächlichkeit nicht zu. Die Themen, die diskutiert werden, sind größtenteils sehr konkret: Wie sieht die Arbeitswelt der Zukunft aus, wie kann Kinderpornografie verboten werden und was geschieht mit digitalen Daten und dem Urheberrecht?
„Die re:publica ist zu einer Marke geworden, die international Anerkennung findet“, urteilt eine Teilnehmerin, die aus Darmstadt angereist ist. Auch die Verantwortlichen beziehen eine klare Position: „Wir bringen die globale Gesellschaft zusammen“, betonte Markus Beckedahl, einer der Veranstalter der re:publica.