La Bobera, Verrücktheit, nennen die Bewohner des Berglandes im Norden Kolumbiens den Fluch, der sie seit 250 Jahren heimsucht. In manchen Dörfern der Umgebung des Bergstädtchens Yarumal erkrankt fast jeder Zweite an Alzheimer. Seit Ende der 1980er Jahre kennt man die Ursache: Viele Familien tragen eine gefährliche Mutation in ihren Genen. Schon in der Jugend bilden sich in ihren Gehirnen dicke Eiweiß-Klumpen. Bereits im Alter von 40, 45 Jahren gehen Orientierung, Sprache und Gedächtnis verloren. Mit 50 sind die meisten dement.
Schon Alois Alzheimer hatte sich über die Rolle der Amyloid-Plaques gewundert, wie sich das zerstörerische Eiweiß nennt, mit denen das Gehirn seiner Patienten übersät zu sein schien. Anfang der 1990er Jahre schien das Rätsel gelöst. Bei den Betroffenen ist der Abbau oder die Produktion des „Amyloid-Precursor-Proteins“ (APP) in der Nervenzellmembran gestört.
Die Folge, so die Idee: Bruchstücke dieses APP, das Amyloid-Beta, lagern sich zwischen den Zellen ab und stoßen in Zusammenarbeit mit Entzündungszellen und anderen aggressiven Substanzen eine fatale Kaskade an, die zunächst die Verbindung zwischen den Nervenzellen und dann die Neurone selbst zerstört. Die Amyloid-Hypothese war geboren.
Rund 25 Jahre später scheint es, als müsste sie wieder zu Grabe getragen werden. Grund ist das Scheitern eines Medikaments, mit dem das Pharma-Unternehmen Eli Lilly die Therapie der Erkrankung revolutionieren wollte. Der Wirkstoff Solanezumab ist ein Antikörper, der das Amyloid abzufangen versucht, bevor es sich zu den Plaques zusammenlagert. Dass das auch die Symptome der Patienten bessert, versuchte das Unternehmen, wie es unlängst bekanntgab, vergeblich zu belegen.
Was manche Wissenschaftler besonders nachdenklich macht: Nicht nur die aktuelle Studie, auch alle anderen Versuche, ihre Hypothese in konkrete Therapien umzusetzen, waren bislang ein Fehlschlag. Ähnlich wie Lilly ging es der Konkurrenz mit dem verwandten Bapineuzumab. Die Versuche, mit sogenannten Gamma-Sekretase-Hemmern die Herstellung des Amyloids zu bremsen, verschlechterten sogar das Befinden mancher Patienten.
„Meiner Meinung nach wird es nicht reichen, einfach das Amyloid abzuräumen“, sagt Christian Behl, Direktor des Instituts für Pathobiochemie der Universitätsmedizin Mainz. „Damit ist der Morbus Alzheimer noch nicht besiegt.“ Zu den Aufgaben eines Wissenschaftlers gehöre es auch, die eigenen Arbeitshypothesen zu hinterfragen. Die meisten Patienten erkranken erst im hohen Alter und ohne eindeutige genetische Störung des Amyloid-Stoffwechsels. „Und hier ist die Amyloid-Hypothese noch keineswegs bewiesen.“
Es gibt auch andere Meinungen. Christian Haass ist zum Beispiel der Ansicht, dass man nicht früh genug mit der Behandlung angefangen hat. „Ist das Gehirn einmal zerstört, können Sie die Uhr nicht zurückdrehen“, sagt der Sprecher des Münchner Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen. Angesichts derart eindeutiger Fälle wie der Menschen in Yarumal und anderer genetischer Belege sei es für ihn unvorstellbar, „dass an der Amyloid-Hypothese nichts dran ist“.
Nur: Den gleichen Argumenten folgend ist Lilly gerade gescheitert. Solanezumab war schon einmal in einer Studie erfolglos. Im zweiten Anlauf hatte es die Firma in einem früheren Krankheitsstadium versucht – mit bekannten Ergebnissen. Inzwischen wird der Antikörper sogar an völlig symptomlosen Patienten ausprobiert. Bei Menschen, die entweder genetisch stark vorbelastet sind oder zumindest deutliche Amyloid-Ablagerungen im Hirn haben.
Bleibt die Frage, warum das Medikament in den bisherigen Studien seine Wirksamkeit nicht wenigstens andeuten konnte. Die Firma Biogen hat mit ihrem Anti-Amyloid-Antikörper Aducanumab ähnliches in frühen Demenzstadien schon einmal geschafft; aber auch hier steht die Probe aufs Exempel noch aus.
Und es gibt noch weitere Widersprüche. Wie zum Beispiel ist zu erklären, dass jeder vierte bis dritte ältere Mensch zwar Unmengen von Amyloid im Gehirn hat, geistig aber fit und gesund ist? Und dass es umgekehrt Patienten mit ausgewachsenem Morbus Alzheimer gibt, in deren Hirn sich kaum Plaques finden? Womöglich ist der Morbus Alzheimer bei der Mehrzahl der Patienten, die erst im hohen Alter erkranken, weitaus komplexer als bei den fünf Prozent familiär bedingten Früh-Dementen.
Ebenfalls nicht recht ins Bild passt die Tatsache, dass der Morbus Alzheimer von Faktoren beeinflusst wird, die mit dem Amyloid nichts zu tun haben. So kann ein vorübergehender Verwirrungszustand bei älteren Menschen, als sogenanntes Delir häufiges Begleitsymptom eines Klinikaufenthalts, das Demenz-Risiko verdoppeln. Ursache ist wahrscheinlich eine cerebrale Entzündung und Störung des Hirnstoffwechsels. Auch häufige Gehirnerschütterungen erhöhen das Alzheimer-Risiko.
Ganz besonders stark scheinen die klassischen Herz-Kreislauf-Risikofaktoren ins Gewicht zu fallen: Patienten mit einer ausgeprägten Atherosklerose haben laut Studien ein dreimal so hohes Alzheimer-Risiko. Auch deshalb wird besonders die erfolgreiche Behandlung von Bluthochdruck und hohen Cholesterinwerten dafür verantwortlich gemacht, dass das Demenz- und Alzheimer-Risiko in den letzten 40 Jahren überraschenderweise um 20 beziehungsweise zwölf Prozent gesunken ist. Und nicht zu vergessen: Der wichtigste Alzheimer-Risikofaktor ist immer noch das Alter.
„Das Amyloid allein kann es nicht sein“, glaubt Oliver Peters, Leiter der Gedächtnissprechstunde an der Berliner Charité. „Wahrscheinlich spielen abhängig nach Stadium auch andere Entstehungsmechanismen eine Rolle.“
Dem Psychiater und Geriater Michael Hüll vom Zentrum für Psychiatrie Emmendingen gilt das Eiweiß deshalb nur als ein Risikofaktor von vielen. „In die Demenz führen zahlreiche verschiedene Wege.“ Durchblutungsstörungen, Hirnschädigungen, Entzündungen und der Alterungsprozess verbünden sich nach dieser Theorie, um Synapsen und Nervenzellen gemeinsam zu attackieren. Und das Amyloid ebnet ihnen oft den Weg, weil es zum Zerstörungsprozess oft entscheidend beiträgt. Schließlich haben Menschen, die dank einer Mutation weniger Amyloid-Beta herstellen, ein deutlich geringeres Alzheimer-Risiko.