So wie die Begriffe "Massentourismus" und "Venedig" fast schon Synonyme sind, so sind es auch die Begriffe "Kunst" und "Venedig" – erst recht in den Jahren, wenn die Biennale Arte in der altehrwürdigen Metropole stattfindet. Dann wird die Stadt – neben den Kunst-Hauptschauplätzen Arsenale und Giardini – geradezu geflutet mit Ausstellungen zeitgenössischer Kunst: in den über die Kanäle verstreuten Länderpavillons, in den assoziierten Schauen, genannt "collaterali", in den Museen, Sammlungen, Palazzi, temporären Galerien, Pop-up-shops. Kommt hinzu: viel, sehr viel Kunsthandwerk. Drei von vier Läden scheinen vom Netten oder Hübschen oder tatsächlich Schönen oder von bedenkenswerten Künstlerweltsichten zu leben. Und dabei ist noch nicht einmal die überbordende Alte (Sakral-)Kunst berücksichtigt, die einem per Schritt, Tritt und Vaporetto am Schaffenszentrum der drei "Ti's" begegnet: Tizian, Tintoretto, Tiepolo. Wenigstens einmal im Leben kann es auch nicht schaden, Giovanni Bellinis so rätselvolle wie epochale Madonna mit Kind in San Zaccaria gesehen zu haben, dazu die Mosaiken im Markusdom, Giorgione, Veronese, Canaletto in der Academia, das Grab Monteverdis in Santa Maria Gloriosa dei Frari – aber die venezianische Musik ist schon wieder das nächste Kapitel ...
Zusammengenommen: Grund, sich zu sputen. Grund, strikt auszuwählen – gerade bei der zeitgenössischen Kunst anlässlich der Biennale, von der ja eh wieder in wenigen Jahren etliches vergessen sein wird ... Was also ist geboten an Besonderem, Gedankenreichem, Qualitätvollem im Gewusel? Vier Hinweise.
Alles muss raus in Venedig!
Am Canal Grande steht ein herrschaftlicher Palazzo zum Verkauf: "vendesi" jedenfalls verkündet ein Banner mit Telefonnummer. Am Eingang empfängt kreischende Billigwerbung für Altgold- und Gebrauchtschmuck die Neugierigen. Treten sie dann ein, werden sie empfangen von einer gigantischen Secondhand-Bude. Hier gibt's alles, von der gebrauchten Toilettenschüssel über die Beinprothese hin zu Roulettetisch, Beichtstuhl, Schnellfeuerwaffe. Alles muss raus! Der Schweizer Konzeptkünstler Christoph Büchel war wieder da. Auf der Biennale verwandelte er bereits eine Kirche in eine funktionstüchtige Moschee und präsentierte – umstritten – ein gesunkenes Flüchtlingsschiff, das zuvor Hunderte in den Tod gerissen hatte. Jetzt aber lässt Büchel in jener Fondazione, die ausgerechnet den Luxusnamen "Prada" trägt, eine Art Bank plus Pfandleihhaus für Ramsch auferstehen – jenes Leihhaus, das bis ins letzte Jahrhundert hinein in diesem Anwesen unter dem Namen "Monte di Pietà" wirkte. Arme Menschen konnten dort ihre letzte Habseligkeit als Sicherheit gegen einen günstigen Kleinkredit hinterlegen. Welchen Denkanstoß gibt uns mit seinem Gerümpel der sarkastische Büchel diesmal? Institutionalisierte Wohltätigkeit ist nicht unbedingt erfolgreich – und auch nur eine Facette im (insgesamt überschuldeten) kapitalistischen System. Natürlich ist der Palast nicht wirklich zu verkaufen und werthaltig ist sein aktueller Inhalt auch nicht. Der Trödel trägt Prada.
Maurizio Cattelan hat eine Gefängnismauer bemalt
In einem Frauengefängnis auf der Insel Giudecca befindet sich hingegen der vatikanische Kunst-Pavillon – zu besuchen nur mit digitaler Voranmeldung. So viel Sicherheit muss sein. Künstlerische Galionsfigur ist – ein Sprung über den Schatten – Maurizio Cattelan, der ja vor Jahren in einer Skulptur Papst Johannes Paul II. von einem Meteoriten treffen und zu Boden gehen ließ. Jetzt bemalte er die Gefängnisfront haushoch mit den geschundenen, verschmutzten Sohlen zweier menschlicher Füße. Schön, wahr und gut, was der Papst selbst bei der Einweihung des Projektes, an dem künstlerisch und erläuternd auch Insassinnen beteiligt sind, erklärte. Er sagte: "Heute ist es nötiger denn je, klar zwischen Kunst und Markt zu unterscheiden."
Unbedingt zu beachten sind schließlich die Ausstellungen der belgischen Künstlerin Berlinde de Bruyckere in der Abtei San Giorgio Maggiore sowie der Afroamerikanerin Julie Mehretu im Palazzo Grassi. De Bruyckere huldigt in ergreifenden Skulpturen der Verletzlichkeit und Vergänglichkeit alles Lebens. Sie berührt die Betrachter dort, wo sie nicht berührt werden wollen. Ihr Werk: ein großes Memento mori. Und Julie Mehretu, in Europa noch immer nicht ihrem künstlerischen Rang entsprechend gewürdigt, fasst in ihrer Malerei per Zeichen, Markierungen und Schichtungen abstrakt-dynamisch zusammen, was der Mensch an Konstruktion und Destruktion in Gang setzt und wie er von Konstruktion und Destruktion wiederum unter Zwang und Gewalt gesetzt wird. Großartig.