Als Hauptkommissar Paul Trimmel, gespielt von Walter Richter, 1970 ins „Taxi nach Leipzig“ steigt und damit die „Tatort“-Tradition begründet, ist François Werner noch gar nicht geboren. Deutschlands mutmaßlich größter „Tatort“-Fan erblickt erst drei Jahre später das Licht der Welt. Der Sohn einer Französin und eines Deutschen wächst in der Nähe von Hamburg auf. Schon als kleiner Junge ist er „Krimi-Junkie“, die Detektiv-Rätsel-Bücher von Wolfgang Ecke verschlingt er.
„Das Tüfteln, die Ermittlungsarbeit, das war der Reiz.“ Seit 1997 betreibt Werner die Internetseite „tatort-fundus.de“, das auch von der ARD anerkannte digitale „Tatort“-Archiv mit allen Hintergründen und Statistiken zu 1000 Krimi-Folgen. Wer wissen will, wie viele Menschen im „Tatort“ ihr Leben lassen mussten, wird hier ebenso fündig wie Freaks, die sich für die Autos der Kommissare seit 1970 interessieren. Und selbstverständlich wird in einem Forum über die Filme Woche für Woche kontrovers diskutiert . . .
Wenn Schimanski „Scheiße“ sagt
Bei François Werner wird das Interesse am „Tatort“ früh geweckt: Die Erwachsenen sprechen über Klassiker wie „Reifezeugnis“ mit der blutjungen Nastasja Kinski – und dann, ab Sommer 1981 über Horst Schimanski, diesen neuen 68er Kommissar aus Duisburg, großartig gespielt von Götz George. Er erinnere sich noch gut, sagt Werner, wie er montags auf dem Schulweg am nahen Kiosk auf der Titelseite der „Bild“-Zeitung das Neueste über diesen „Skandal-Ermittler“ in Jeans, Cowboystiefeln und beiger Windjacke lesen konnte, vor allem, wie oft dieser wieder „Scheiße“ gesagt hatte.
Bald schon darf der Teenager am Sonntagabend um 20.15 Uhr selbst auf dem Sofa vor dem Bildschirm Platz nehmen. Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre sind es neben Schimanski die Kommissare Stoever (gespielt von Manfred Krug), Batic & Leitmayr (Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl) oder Bienzle (Dietz-Werner Steck), die die Krimi-Reihe prägen und Montag für Montag nach der Ausstrahlung für Gesprächsstoff auch auf dem Schulhof sorgen. Der „Tatort“ war ein Muss. „Selbst am Abend vor der schriftlichen Abiturprüfung wollte ich nicht drauf verzichten“, sagt Werner, „da lief schließlich der neueste Bienzle“.
Klar, dass er jede ausgestrahlte Folge auf Video aufzeichnet und alles sammelt, was es irgendwo über den Krimi zu lesen gibt.
Bei aller Liebe zum „Tatort“, zur Fanseite im Internet kommt der Student der Ernährungswissenschaften, der heute in Mannheim als Wissenschaftsjournalist Medizinthemen bearbeitet, „durch reinen Zufall“. 1997 besucht er einen Programmierkurs an der Universität, ihn interessieren die Möglichkeiten des neuen Mediums Internet. Als der Dozent den Teilnehmern vorschlägt, sich doch ein Thema zu suchen, um das Erstellen einer Homepage zu üben, fällt François Werner der „Tatort“ ein. Schnell merkt er, „wie viele sich für das Thema interessieren und mitmachen, mitreden wollen“.
200.000 Nutzer im Monat
Der „Tatort-Fundus“ ist geboren – und geblieben. Optisch hat sich die Seite kaum verändert, das unaufdringliche, fast altbackene Design macht sie sympathisch. Heute tummeln sich jeden Monat über 200 000 Nutzer auf der Homepage und sorgen für Millionen Klicks. Mittlerweile sind es acht Leute, die den Internet-Auftritt betreuen.
Sie veröffentlichen, wann der nächste „Tatort“ in einem der dritten Programme wiederholt wird oder beantworten Fragen, wenn Fernsehzuschauer oder Journalisten wissen wollen, welche Waffe der Ermittler in Folge 357, welchen Schal die Ermittlerin in Folge 496 getragen hat. Die „Fundus“-Macher wissen dann zumindest, wo sie nachfragen müssen.
Woher aber kommt der Hype um den „Tatort“, das letzte „Lagerfeuer“ des deutschen Fernsehens im Zeitalter von YouTube und Mediatheken? Viele Fernsehkritiker sagen, der erste Auftritt des schrägen Münsteraner Duos Thiel & Boerne (Axel Prahl und Jan-Josef Liefers) anno 2002 habe der Reihe gerade auch bei Jüngeren gehörig Popularität verschafft. In der Tat sorgen die Kabbeleien zwischen dem bodenständigen Kommissar und dem arroganten Professor der Gerichtsmedizin bis heute für regelmäßig über 13 Millionen Zuschauer und damit für Rekordquoten. Experte Werner hat noch etwas anderes beobachtet. Mit der Fußball-WM 2006 habe Public Viewing, das gemeinsame Fernsehen, einen neuen Aufschwung erfahren, „von dem der ,Tatort' bis heute profitiert“.
Tatsächlich sind es nicht nur überall Kneipen, die Sonntagabend zum öffentlichen „Tatort“-Gucken laden. Auch Wohngemeinschaften, Freundeskreise und Großfamilien kommen für den neuesten Boerne-, Blum- oder Tschiller-Krimi zusammen, um den Mörder zu raten, zu lachen oder sich mächtig aufzuregen.
Themen von Müllskandal bis Sextourismus
Müllskandal und Bundeswehreinsatz, Neonazi-Gewalt und Sextourismus: Es gibt kaum ein gesellschaftlich relevantes Thema, das es über die Jahre nicht in den „Tatort“ geschafft hätte. Hinzu kommt die Vielfalt der Kommissare: der abgedrehte Murot oder der schießwütige Tschiller, die bedächtige Klara Blum oder die patente Lena Odenthal, da ist für jeden Zuschauer ein Typ dabei. Aktuell sind's 22 Ermittler-Teams mit teilweise sehr eigenen Macken, fast ein bisschen zu viel.
Und dann ist da die Regionalität. Es war ein genialer Einfall von „Tatort“-Erfinder Günther Witte, die Schauplätze der Reihe über die ganze Republik zu verteilen. Was wüssten wir über den Niedergang der alten Industrien im Ruhrgebiet, wenn es Schimanski nicht gegeben hätte. Was über das kleinbürgerliche Milieu in den Altstadtquartieren von München oder Stuttgart ohne Batic, Leitmayr und Bienzle? Was über die Natur am Bodensee ohne Klara Blum? Der „Tatort“ ist immer auch Heimat- und Erdkunde.
So ist es nur folgerichtig, dass 2014 endlich auch das schöne Frankenland auf der „Tatort“-Landkarte erscheint. Zehn Jahre, nachdem ein Franke im München-Krimi als Depp herhalten musste und heftige Proteste auslöste, hatte der Bayerische Rundfunk (BR) ein Einsehen. Seitdem ermitteln zwei zugereiste Hauptkommissare, Paula Ringelhahn (Dagmar Manzel) und Felix Voss (Fabian Hinrichs), gemeinsam mit drei Ur-Franken einmal im Jahr. In diesem Sommer wurde Folge Nummer drei in Bamberg abgedreht, zuvor waren Nürnberg und Würzburg dran.
Beim Franken-„Tatort“ fiebert eine ganze Region mit. Die Macher vom BR sind begeistert, wie offen Behörden die Produktion begleiten. Wenn Komparsen gesucht sind, ist die Resonanz groß. Und dann wird natürlich über die Filme selbst – den sozialen Medien sei dank – munter diskutiert. Das fängt an bei den Bildern („Von Würzburg war doch kaum etwas zu sehen“), geht weiter über die Sprache („Das Fränkisch, das die Polizistin spricht, ist falsch“) und endet noch lange nicht bei den Geschichten selbst, die die einen „klasse“, andere „nur doof“ finden.
Egersdörfer und die fränkische Wurst
Matthias Egersdörfer ist einer der original fränkischen „Tatort“-Protagonisten. Der Fürther Kabarettist spielt Schatz, den Leiter der Spurensicherung, mit trockenem Humor. Den Krimi verfolge er erst, seitdem er selbst dabei ist, gesteht er. „Tatort“-Gucken am Sonntagabend sei für ihn immer der letzte gemeinsame Nenner von Paaren „in prekären emotionalen Verhältnissen“ gewesen, lästert er. Jetzt spielt er selbst beim Sonntagskrimi mit – und hat „viel Spaß“ dabei.
Seine Textanteile könnten, so hofft er, ruhig noch etwas größer werden. Ein erster Schritt sei schon gemacht: „Demnächst gibt's was Längeres zu fränkischer Wurst.“ Details dürfe er nicht verraten. Egersdörfer kann sich den Franken-„Tatort“ auf Dauer experimenteller, auch schräger vorstellen. Er ist ein Freund der überspannten, manchmal der Welt entrückten Kommissare wie Murot (Ulrich Tukur) oder Stellbrink (Devid Striesow).
François Werner hingegen mag die klassischen Ermittler, die ihr Privatleben eher dezent im Hintergrund leben. Für ihn braucht ein Kommissar weder einen Hirntumor (wie Murot) noch erschossene Familienangehörige (wie Ballauf). Stattdessen schwärmt der 43-Jährige von den Kommissaren Haferkamp (Hansjörg Felmy) und Finke (Klaus Schwarzkopf), die in aller Ruhe oft „sehr, sehr spannende Fälle“ aufgeklärt hätten. Auch wenn es die beiden schon Jahrzehnte nicht mehr gibt, seiner Treue zur Reihe tun die heutigen Kommissarinnen und Kommissare keinen Abbruch. „Der ,Tatort' geht mit der Zeit, er ist auch ein wandelndes Geschichtsbuch.“
Und er ist Thema von Wissenschaft und Forschung. Nachvollziehbar, dass Film- und Medienwissenschaftler die Reihe interessiert. Längst aber untersuchen auch Soziologen und Germanisten den „Tatort“. Die Frankfurter Goethe-Universität startet anlässlich der 1000. Folge in diesen Tagen gar eine ganze Vorlesungsreihe. François Werner ist dabei. Gleichwohl ist ihm der Medienrummel dieser Jubiläumstage ein bisschen viel. „Der ,Tatort' soll ein Hobby bleiben, nicht mehr“, sagt er. Und hofft, dass der Trubel schnell vorüber geht, wenn diesen Sonntag – 46 Jahre nach Paul Trimmel – die Kommissare Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) und Klaus Borowski (Axel Milberg) in ein „Taxi nach Leipzig“ steigen.
Der „Tatort“ in Zahlen und Fakten Die berühmteste Folge: „Reifezeugnis“ (März 1977) von Wolfgang Petersen gilt als der legendärste „Tatort“. Kommissar Finke (Klaus Schwarzkopf) hat es mit dem Mord an einem Teenager zu tun und trifft auf eine Schülerin (Nastassja Kinski), die ein Verhältnis mit ihrem Lehrer (Christian Quadflieg) hat. Die erste Frau: Kommissarin Marianne Buchmüller (Nicole Heesters) war die erste Ermittlerin. Die Auftaktfolge „Der Mann auf dem Hochsitz“ lief im Januar 1978. Bis 1980 folgten zwei weitere. Die meisten Fälle: Die Münchner Hauptkommissare Ivo Batic und Franz Leitmayr (Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl) waren seit 1991 in mittlerweile 73 Folgen zu sehen. Die dienstälteste „Tatort“-Kommissarin ist Lena Odenthal (Ulrike Folkerts). Seit Oktober 1989 jagt sie Verbrecher im Südwesen. Die meisten Leichen: Die Experten von „Tatort“-Fundus zählten in 1000 Folgen exakt 2280 Tote. Mehr als fünf Leichen gab es in 47 TV-Krimis. In der Folge „Im Schmerz geboren“ (2014) mit Ulrich Tukur waren es am Ende 51 Tote. Häufigste Todesursachen sind erschossen (856), erschlagen (254) und vergiftet (175). Der schrägste Mord geschah durch einen Kuss. Im Fall „Unsterblich schön“ küsst der Mörder seine verhasste Frau, nachdem er Erdnüsse gegessen hat. Sie ist gegen Nüsse allergisch und stirbt an einem Allergie-Schock. 21 „Tatorte“ kamen komplett ohne Leichen aus. DPA/MICZ