Es sei einfach Zeit gewesen, für dieses zentrale Werk der deutschen Literatur. Wie hatte der Germanist Albrecht Schöne 1994 im Vorwort seiner Goethe-Ausgabe geschrieben? Dass es eine „nationale Schande“ sei, dass es bei solch einer Dichtung von weltgeschichtlichem Rang wie dem „Faust“ keine moderne historisch-kritische Ausgabe gebe. Fotis Jannidis und Anne Bohnenkamp-Renken, die beide über Goethe promoviert hatten, fanden das auch. Zumindest erkannten sie eine schmerzliche Lücke. Der Computerphilologe hatte sich mit Goethes Bildungsbegriff beschäftigt. Und Anne Bohnenkamp-Renken hatte, die kleine Gruppe jener Handschriften mit Entwürfen, Passagen und sonstigen Texten zum Fauststoff bearbeitet, die Johann Wolfgang von Goethe dann nicht verwendet hatte.
Rund 60 Jahre lang hatte Goethe an seinem „Faust“ geschrieben. Mal arbeitete er intensiv daran, dann ließ er das Werk viele Jahre liegen. 1772, im jungen Alter von 23 Jahren, hatte der Dichter mit dem ersten Entwurf zum „Urfaust“ begonnen. „Faust. Ein Fragment“ vollendete er 1788, zwei Jahrzehnte später erschien „Faust. Eine Tragödie“. Und die Arbeit an der Tragödie mächtigem zweiten Teil schloss er dann noch einmal 24 Jahre später ab, 1832, im Jahr seines Todes. Ein Prozess, eine Lebensaufgabe, von dem vor allem im Goethe-Schiller-Archiv in Weimar eine Unmenge an Handschriften mit über 2000 beschriebenen Seiten erhalten ist. Dazu kommen Drucke, die zu Goethes Lebzeiten erschienen waren. Und mehr als 1500 Zeugnisse zur Entstehung des Werks. Doch eine große historisch-kritische Ausgabe? Es gab sie nicht. Während der deutschen Teilung hätte sie auch keiner richtig angehen können.
"Der Worte sind genug gewechselt, // Laßt mich auch endlich Taten sehn; // Indes ihr Komplimente drechselt, // Kann etwas Nützliches geschehn." — Vers 214 ff. / Direktor
Aber dann: „Es war Zeit für das zentrale Werk“, sagt Jannidis über das, was er, Anne Bohnenkamp-Renken und Silke Henke vom Goethe-Schiller-Archiv Anfang 2009 begannen: eine neue, zeitgemäße Edition des „Faust“. Den beiden Literaturwissenschaftlern war von Beginn an klar, dass dieses neue Werk nicht zwischen zwei Buchdeckeln passen würde. Viel zu opulent das Werk, zu riesig der Nachlass, zu vielfältig die Handschriften, als dass die historisch-kritische Aufarbeitung in klassischer Form, also gedruckt, verlegt werden könnte.
Die Lösung: eine Hybrid-Edition, gedruckt und digital. Eine moderne Ausgabe in Buchform mit einem neuartigen „genetischen“ Apparat im elektronischen Medium. Da war klar: an diesem Riesenprojekt werden nicht nur Germanisten, sondern auch Informatiker beteiligt werden. 2009 wurde Fotis Jannidis an den neuen Lehrstuhl für Computerphilologie und Neuere Deutsche Literaturgeschichte berufen. Und im selben Jahr begannen die Arbeiten an der neuen Faust-Edition. Anne Bohnenkamp-Renken leitete inzwischen das Freie Deutsche Hochstift, das Goethe-Haus, in Frankfurt. Eben jenes Haus am Großen Hirschgraben, in dem Goethe den „Urfaust“ begonnen hatte. Auch die Klassik Stiftung mit dem Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar war bei dem Vorhaben dabei.
"Die Masse könnt ihr nur durch Masse zwingen, // Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus." — Vers 95 f. / Direktor
Fast zehn Jahre später ist die faustedition.net für jedermann frei zugänglich, im Wallstein-Verlag ist eine opulente Faksimile-Ausgabe erschienen. Und Jannidis, der Würzburger Computerphilologe, und sein Mitarbeiter Thorsten Vitt sagen: „Das Projekt ist noch schwieriger und komplexer geworden als gedacht.“
Der Computer verändert die Arbeit der Literaturwissenschaftler gewaltig. Über Jahrzehnte, Jahrhunderte erstellten die Herausgeber historisch-kritische Editionen, indem sie sich für einen Text entschieden. Sie untersuchten die erhaltenen Handschriften, versuchten, den vorliegenden Text im historischen Kontext zu verstehen, verglichen Varianten, rekonstruierten, wie der Dichter vorging und wie das Werk entstand. Dann legten sie die „gültige“ Fassung fest. Frühere Versionen kamen in den Variantenapparat.
"Allwissend bin ich nicht; doch viel ist mir bewusst." — Vers 1582 / Mephistopheles
„Im digitalen Bereich kann der Leser per Mausklick entscheiden, welche von mehreren Textvarianten für ihn auf den ersten Blick sichtbar sein soll und welche weniger wichtig ist“, sagt Fotis Jannidis. Der Leser kann zwischen der eingescannten Handschrift und einer Version mit modernem Schriftbild hin und her wechseln. Er kann sich Anmerkungen und andere Textvarianten auf den Bildschirm holen, ohne sich wie bei einer gedruckten Ausgabe mühevoll in ein komplexes System von Sonderzeichen einzuarbeiten. Und wenn er will, kann er den Textentstehungsprozess nachvollziehen – durch ein riesiges Netz, das sich zweidimensional, gedruckt auf Papier, gar nicht darstellen ließe. „Die Visualisierung“, sagt Jannidis, „ist eine der ganz großen Chancen der digitalen Edition.“
Noch eine Veränderung durch den Computer: „Er macht nicht zuletzt aus dem typischen Einsiedler einen Teamarbeiter“, sagt Jannidis. Unter anderem sehe man das an der Fülle der Beteiligten an der Faust-Edition: „Erst durch das Zusammenwirken der ganz unterschiedlichen Spezialisierungen wird eine digitale Edition möglich.“
"Dass ich erkenne, was die Welt // Im Innersten zusammenhält." — Vers 382 f. / Faust
Für die digitalen Herausgeber ist dabei vieles völliges Neuland. „Wir sind immer noch dabei, zu entdecken, was wie gestaltet werden kann“, sagt der Computerphilologe über das elektronische Editieren. Für den „Faust“ mussten sie erst einmal neue technische Mittel und Standards für die codierte, maschinenlesbare Form des Textes entwickeln.
Das Bestechende am Ergebnis für Goethe-Forscher und Faust-Leser in aller Welt: Mit der digitalen Faust-Edition gibt es jetzt ein digitales Archiv aller „Faust“-Editionen, samt Transkription. 80 Prozent aller bekannten Handschriften und Manuskripte zum Mammutwerk liegen zwar in Weimar, der Rest aber ist über die ganze Welt verstreut. „Wir geben jetzt dem Forscher die Möglichkeit, alles an einem Ort zu haben“, sagt Thorsten Vitt. Am eigenen Rechner nämlich, am Bildschirm im Büro oder daheim. „Nicht nur der Forscher, sondern auch der interessierte Laie kann die Manuskripte auf seinen Bildschirm rufen, dann daneben die Transkription sehen, kann nachverfolgen, wie Goethe den Text geschrieben und dann gelöscht hat, kann nachvollziehen, wie sich einzelne Verse dann verändert haben.“ Ein Einblick in Goethes Schreibstube quasi.
Jannidis gilt als Vorreiter der Digital Humanities in den Geisteswissenschaften, über die Vorteile der computergestützten Forschung kann er viel erzählen: „Man entdeckt plötzlich Texte ganz neu, vor allem andere Texte, die man gar nie im Blick gehabt hätte.“ Die Software aber erkennt Ähnlichkeiten zwischen vertrauten und unbekannten Texten, zwischen Texten aus der eigenen Bibliothek und bislang unerreichbares Archivmaterial anderswo – und lenkt den Blick auf Lücken. „Ganz vieles, was wir nicht gesehen haben, wird jetzt vielleicht sichtbarer werden.“
"Das also war des Pudels Kern!" — Vers 1323 / Faust
Noch ein Vorteil: In der digitalen Edition steckt ein Labor. Komplizierte logische Widersprüche, Ungenauigkeiten, auf die man stößt, lassen sich in der elektronischen Version schnell korrigieren. Die Edition ist eine Art Work-in-Progress – immer offen für neue Anregungen, Frage- und Richtigstellungen.
Mit der digitalen Edition, die unter faustedition.net im Netz völlig frei zugänglich ist, lässt sich Goethes Text aus verschiedenen Perspektiven ergründen. Der Nutzer kann, je nach Interesse, unterschiedliche Zugänge und wechselnde Ansichten und Abfragemöglichkeiten wählen: Archiv, Genese und Text.

Im „Archiv-Bereich“ ist die gesamte Faust-Überlieferung in Abbildungen, Transkriptionen und Zeugenbeschreibungen zu sehen. Hier steht erstmals eine komplette, jedem ohne Zugangsbeschränkungen einsehbare virtuelle Sammlung der Faust-Handschriften und der zu Goethes Lebzeiten erschienenen Drucke zur Verfügung. Alle Handschriften sind hochaufgelöst und farbig abgebildet – manche von ihnen werden hier erstmals überhaupt veröffentlicht.
Im Bereich „Genese“, der vielfältig mit dem Archiv verknüpft ist, machen die im Transkript dargestellten Varianten den Schreibprozess Goethes nachvollziehbar – von den ersten Worten auf dem Papier bis zur fertigen Beschriftung des Blattes. Die handschriftenübergreifende Entstehung des Gesamtwerkes wird überblicksweise in verschiedenen Schaubildern visualisiert.
"Wie alles sich zum Ganzen webt, // Eins in dem andern wirkt und lebt!" — Vers 447 f. / Faust
Über den Bereich „Text“ kann der Nutzer schließlich direkt vom Text des „Faust“ in die Edition einsteigen. Zunächst gibt es einen Lesetext von Faust 1 und 2, Inhaltsverzeichnisse führen den Nutzer dann zu den einzelnen Werkabschnitten und „Paralipomena“. Eben jenen Aufzeichnungen, die Goethe nicht in die Endfassung des Werkes nahm und die nach seinem Tod veröffentlicht wurden.
„Keine der erhaltenen Faust-Versionen kann als verbindlich und authentisch gelten“, sagt der Literaturprofessor. Für die neue Edition erstellten die Wissenschaftler jetzt einen Lesetext, der, so Jannidis, „auf der genauen Prüfung sämtlicher Handschriften und Drucke beruht“. Er komme Goethes eigenem Wortlaut und Interpunktionsgebrauch so nahe wie keine Edition zuvor. Dieser Text ist Teil der neuen gedruckten Publikation: „Faust. Eine Tragödie. Konstituierter Text“.
"Denn was man schwarz auf weiß besitzt, // Kann man getrost nach Hause tragen." — Vers 1966 f. / Schüler
Zur Publikation zwischen Buchdeckeln gehört auch der Band „Faust. Der Tragödie zweiter Teil“. Die fast 400 Seiten umfassende Gesamthandschrift liegt hier als hochwertiges und aufwendiges Faksimile vor. Wiedergegeben sind Vorder- und Rückseite des Einbands und sämtliche Blätter im Folioformat. Dazu 26 eingeklebte Blätter und Streifen mit handschriftlichen Korrekturen und Ergänzungen – originalgetreu als Aufklebungen. Dem Faksimile steht ein Band mit einer Transkription zur Seite, die die teils schwer zu entziffernde Niederschrift zeichengetreu wiedergibt.
„Für druckliebende Leute“, sagt Jannidis schmunzelnd wie ernsthaft. Und: „Das meiste von dem, was wir uns vor zehn Jahren vorgenommen haben, haben wir erreicht.“ Ist jetzt auch die nationale Schmach getilgt? Mit Anne Bohnenkamp-Renken hofft der Computerphilologe zumindest, dass das Interesse am „Faust“ und seiner über 50-jährigen Entstehungsgeschichte „auch in neuen Forschungsergebnissen münden wird“.