Seine Tochter Kandidja nannte ihn einen „geborenen Outsider“. Tatsächlich war schon seine Herkunft abenteuerlich. Frank Wedekind, vor 150 Jahren, am 24. Juli 1864, in Hannover geboren, wurde auf den Namen Benjamin Franklin getauft. Sein Vater Friedrich Wilhelm, Gynäkologe und Rebell der gescheiterten Märzrevolution von 1848, war nach San Francisco ausgewandert und dort als Grundstücksspekulant während des kalifornischen Goldrausches reich geworden. In den Goldgräber-Spelunken lernte er die Varieté-Künstlerin Emilie Kammerer kennen, die ebenfalls von liberalem Gedankengut durchdrungen war. Als Ehepaar kehrten die beiden nach Deutschland zurück – und benannten ihren zweiten Sohn nach einem der Gründerväter der USA.
Aus Widerwillen gegen Reichskanzler Otto von Bismarck zog Vater Wedekind aber schon 1872 mit seiner Familie in die liberale Schweiz, wo er in Lenzburg ein Schloss erstanden hatte. Dort wuchs der mittlerweile achtjährige Frank gemeinsam mit fünf Geschwistern auf, dort entstanden seine ersten Texte. Wedekind besuchte die Lenzburger Gemeindeschule und später die Kantonschule in Aarau. Er gründete eine Dichterschule, spielte Theater und trat als Bänkelsänger mit Gitarre auf. Die Suizide mehrerer Mitschüler verarbeitete er 1890/91 in seinem Jugenddrama „Frühlings Erwachen“, einem tragikomischen Stück mit grotesken Elementen über Pubertierende. Uraufgeführt 1906 an den Berliner Kammerspielen, blieb es 20 Jahre lang das meistgespielte Stück in der Ära des legendären Theatermannes Max Reinhardt. Vorher allerdings hatte Wedekind sich als Werbetexter versucht. Nach einem Studiensemester in deutscher und französischer Literatur in Lausanne war er auf Wunsch seines Vaters 1884 nach München gezogen: Er sollte Jura studieren. Aber er ging lieber ins Theater. Es zog Wedekind zum Zirkus, zum Tingeltangel, dem seine Mutter entstammte. Als er das Studium abermals abbrach, entzog ihm sein Vater die finanzielle Unterstützung. Wedekind verdingte sich daraufhin als Werbechef in Julius Maggis neuer Suppenwürzefabrik.
„Alles Wohl beruht auf Paarung;/Wie dem Leben Poesie/Fehle Maggi's Suppennahrung/Maggi's Speisewürze nie.“ In diesem Stil verfasste er mehr als 160 Werbetexte. Als sein Vater 1888 starb, erbte Wedekind ein Vermögen, das ihm vorläufig alle Sorgen nahm. Ein paar Jahre lang vagabundierte er zwischen Paris, London und Berlin. 1896 ließ Wedekind sich endgültig in München nieder und wurde zum Mitbegründer und -autor der Satire-Zeitschrift „Simplicissimus“.
Ein satirisches Gedicht auf den Kaiser
Ein satirisches Gedicht auf Kaiser Wilhelm II. zwang den Schriftsteller zur Flucht nach Paris. Als er 1899 nach Deutschland zurückkehrte, musste er wegen Majestätsbeleidigung noch einige Monate in der Festung Königstein absitzen. Ab 1901 wirkte Wedekind dann im Kabarett „Die elf Scharfrichter“ mit. Sein Enkel Anatol Regnier, Sohn der Tochter Pamela, trägt noch heute die Gitarren-Songs seines Großvaters vor. Regnier ist auch Verfasser der Monografie „Frank Wedekind – Eine Männertragödie“ (2008), in der er ihn als zwanghaften Frauenjäger schildert, der häufig zu Prostituierten ging. Zu Hause dagegen verfolgte Wedekind seine Ehefrau, die Schauspielerin Tilly Newes, mit krankhafter Eifersucht.
Die Tragödie Wedekinds lag im Widerspruch zwischen dem antibürgerlichen Anspruch des Dichters in der Nachfolge eines Georg Büchner und dem bürgerlichen Habitus des Ehemanns und Familienvaters. Mit seinen Stücken „Erdgeist“ (1892-94) und „Die Büchse der Pandora“, später von Alban Berg zur Oper „Lulu“ vertont, hatte Wedekind nicht nur die tabuisierte Prostitution, sondern auch die erste Lesbe auf die Bühne gebracht. Abgesehen von seiner Frau Tilly und Frida, der Ex-Gattin August Stindbergs, mit der er einen Sohn zeugte, nahm er die Frauen in erster Linie als Lustobjekte wahr. Der Literaturwissenschaftler Walter Hinck bezeichnete Frank Wedekind als „Feinschmecker der niederen Minne“. Wedekind selbst bekannte 1904: „In allem, was ich bis jetzt geschrieben habe, fehlt mir die große Liebe, der Gerhart Hauptmann seine gewaltige Wirkung zu verdanken hat.“
Sadomasochistische Motive
Ein Grund für die wiederholte Zensur von Wedekinds Werken war der sexuell anstößige Inhalt. So enthält z. B. „Frühlings Erwachen“ sadomasochistische Motive: Ilse wird von verschiedenen Männern gewaltsam unterworfen, Wendla bettelt Melchior um Schläge mit der Rute an. Das Stück wurde erst sehr spät komplett aufgeführt und war wiederholt Aufführungsverboten unterworfen. Auch in „Der Marquis von Keith“ sind sadomasochistische Tendenzen zu erkennen, so bittet Molly von Keith bereits zu Beginn des Stückes um Schläge. Wedekind trat als Schauspieler in seinen eigenen Stücken auf, die mit ihren grotesk anmutenden Darstellungen das bürgerliche Publikum provozierten
„Seinen Anlagen gemäß verbraucht zu werden“ – so nannte er seine „Idee vom Glück“. 1915 musste Wedekind sich einer schweren Darmoperation unterziehen. Am 9. März 1918 starb er an ihren Spätfolgen. Sein Begräbnis auf dem Münchner Waldfriedhof wurde zu einem Skandal, weil ihm auch etliche Damen aus dem Rotlichtmilieu die letzte Ehre erwiesen. „Er schien nicht sterblich“, schrieb Brecht über Wedekind. Text: EPD, WP