Lyriker, Essayist, Übersetzer, Kinderbuchautor, Herausgeber: Hans Magnus Enzensberger hat in seinem Leben vor wenigen literarischen Herausforderungen haltgemacht. „Ich bin mit meinem Beruf ganz zufrieden. Ich habe keinen Chef. Außerdem habe ich Glück gehabt. Ich bin nie eingesperrt, nie zensiert worden“, sagte Enzensberger in einem „Zeit“-Interview zu seinem 80. Geburtstag. Auch fünf Jahre später scheint der Literat weder lebens-, geschweige denn arbeitsmüde. Am Dienstag, 11. November, feiert er seinen 85. „Dabei ist dieser blöde Geburtstag nicht einmal ein runder“, sagte er im „Spiegel“.
Enzensberger wurde 1929 in Kaufbeuren im Allgäu geboren. Eine katholische Familie des „höheren Kleinbürgertums“, schreibt der Journalist Jörg Lau in seiner Biografie – „gebildete, staatstragende Leute mit musischen Interessen, aufgeschlossen für moderne Technik“. Enzensberger wuchs mit drei jüngeren Brüdern in Bayern auf. Dort besuchte er das Gymnasium, bis er 1944 zum NS-Volkssturm eingezogen wurde. Das Abitur holte er nach Kriegsende nach. Von 1949 bis 1954 zog Enzensberger für ein Studium der Literaturwissenschaft, Sprachen und Philosophie nach Erlangen. Weitere Stationen seiner Studienjahre waren Freiburg, Hamburg und Paris.
Zurück in Deutschland, promovierte Enzensberger „Über das dichterische Verfahren in Clemens Brentanos lyrischem Werk“. Ursprünglich hatte er über Hitlers Rhetorik schreiben wollen. Als er sein Thema vorschlug, reagierten die Professoren mit Entsetzen; Enzensberger gab das Thema auf. 1957 erschien sein erster Gedichtband („verteidigung der wölfe“) mit politischer Lyrik. Der wurde über Nacht zum Erfolg. Alfred Andersch, Gründungsmitglied der Gruppe 47 und Mentor von Enzensberger, bezeichnete ihn als den „zornigen jungen Mann“, der einer Generation Sprache verliehen habe.
Gedichte für die Tochter
Enzensbergers Drang, Deutschland für einige Zeit zu verlassen, begleitete ihn fortwährend. Seine Fluchtversuche seien eine „vitale, geradezu körperliche Reaktion auf die deutschen Verhältnisse“ gewesen, erklärte der Literat im „Spiegel“-Interview. Mit seiner frischvermählten Frau, der Norwegerin Dagrun Averaa, zog er in deren Heimat, wo er an weiteren Essays und Gedichten schrieb, darunter auch an Kindergedichten für seine Tochter. Bereits 1963 erhielt er den Georg-Büchner-Preis.
Im selben Jahr reiste er das erste Mal in die Sowjetunion, weitere Reisen folgten. Seine Erinnerungen an diese Zeit, die Liebesbeziehung zur jungen Russin und späteren Ehefrau Mascha sowie die Trennung von seiner norwegischen Frau hat Enzensberger in seinem neuesten Roman („Tumulte“) aufgeschrieben, der Ende Oktober erschien. Neben der Veröffentlichung von Lyrik und Essays arbeitete Enzensberger in den 60er und 70er Jahren an der von ihm gegründeten Zeitschrift „Kursbuch“, die in den Jahren der Studentenproteste Sprachrohr der Aufständler wurde. Auch mit der RAF hatte Enzensberger Kontakt, hielt sich jedoch von den Aktionen der Terrorgruppe fern. Im Nachhinein bezeichnete er sie als „übergeschnappte Leute“. Mit seiner zweiten Ehefrau, Mascha, zog Enzensberger Ende der 60er in die USA. Bereits nach drei Monaten verließ er aus Protest gegen die Außenpolitik das Land und ging für ein Jahr nach Kuba. Die Ehe überlebte die turbulenten Zeiten nicht.
Seine dritte Ehefrau wurde Katharina Kaever, Redaktionsassistentin bei Enzensbergers Zeitschrift „Transatlantik“. Diese gründete er Anfang der 80er Jahre, verließ die Redaktion aber nach zwei Jahren bereits wieder. Seitdem war und ist der Literat vor allem als Essayist omnipräsent. Er bezog Stellung zur EU, zum Irak-Krieg, zum Terrorismus, zur digitalen Überwachung. Sein literarisches Erbe bereitet ihm nach eigenen Aussagen wenig Sorgen. Es gebe Schriftsteller, die trieben eine Vorsorge bezüglich der Nachwelt. „Das ist rührend“, so Enzensberger. Für ihn sei indes klar: „Das erste Gesetz, was die Nachwelt betrifft: Sie macht, was sie will.“