Wenn es 1955 schon Twitter gegeben hätte, wäre der Besuch von Bundeskanzler Konrad Adenauer in Moskau anders verlaufen. Außenminister Heinrich von Brentano kam damals aus dem Verhandlungssaal geschossen und rief den Korrespondenten zu: „Unverschämtheit, unerträglich, die Verhandlungen sind zu Ende. Wir reisen ab!“ Einer der Journalisten war Gerd Ruge. In seinen „Politischen Erinnerungen“, die jetzt, zu seinem 85. Geburtstag am Freitag, 9. August, erschienen sind, schreibt er: „Nur die schlechten Telefonverbindungen bewahrten mich davor, eine Falschmeldung in die Welt zu setzen, wie sie heute innerhalb von Minuten, von Sekunden, über Rundfunk, Fernsehsender und durch das Internet kursieren würde.“
Kennedys Geheimdiplomatie
Ruhe bewahren, sorgfältig recherchieren, Informationen überprüfen – das zeichnet den Auslandsreporter Ruge aus. „Gerüchte kochen heute viel schneller hoch“, sagt er. „Es ist schwieriger geworden für Korrespondenten, Inhalte erst einmal klar abzugleichen mit der Wirklichkeit.“ Adenauer wollte damals keineswegs die Verhandlungen abbrechen. Vielmehr kehrte er im Triumph nach Deutschland zurück, weil er die Freilassung der letzten Kriegsgefangenen ausgehandelt hatte.
Auch in der Kubakrise war Gerd Ruge nah dran an der Weltpolitik: Als ARD-Korrespondent in Washington verfolgte er, wie die Supermächte USA und Sowjetunion beinahe einen Atomkrieg anzettelten. Im Rückblick weiß er: Vieles von dem, was er und die anderen Journalisten sich zusammengereimt oder geschrieben hatten, stimmte nicht. Die Öffentlichkeit erfuhr wenig von der Geheimdiplomatie zwischen US-Präsident John F. Kennedy und seinem sowjetischen Gegenspieler Nikita Chruschtschow – und das war auch gut so, meint Ruge: „Je mehr die Journalisten im Verlauf der Kubakrise erfahren und in die Öffentlichkeit getragen hätten, desto schwerer wäre vermutlich eine friedliche Auflösung der Konfrontation gewesen.“
Der frühere Hörfunk- und Fernsehreporter der ARD kritisiert das „Schwarz-Weiß-Denken“ vieler deutscher Zuschauer – und gibt den Medien eine Mitschuld: Manche Berichte über Menschenrechts-Demos in Russland oder Ägypten erweckten den Eindruck, als kämpfte dort die Mehrheit der Bevölkerung gegen eine als despotisch empfundene Regierung. Dabei sei die Realität viel komplizierter. „In Russland ist der größere Teil der eher konservativen Bevölkerung gegen die Frauengruppe Pussy Riot gewesen, aber das kam in den deutschen Medien nicht rüber.“
Ruge hat sich persönlich für Menschenrechte eingesetzt, war Gründungsmitglied und erster Vorsitzender von Amnesty Deutschland, aber: „Ich habe versucht zu vermeiden, die Berichterstattung über die Politik eines Landes abhängig zu machen von den eigenen Vorstellungen von Menschenrechten.“ Die Zurückhaltung ist aus Sicht von WDR-Intendant Tom Buhrow eine besondere Qualität. Ruges Arbeit sei so erfolgreich, weil es ihm nie darum gegangen sei, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die anderen. „Das hat auch das Publikum immer zu schätzen gewusst.“ Ruges Betrachtungen über viele politische Entwicklungen hätten den Blick von Generationen auf Amerika, Russland, China und die europäischen Nachbarn geprägt. Die Weltpolitik werde durch Ruge fühlbar. Dafür gebühre ihm der größte Respekt. Seit über 60 Jahren erklärt er nun schon die Welt.
Als 16-jähriger Soldat überlebte Ruge mit Glück die Endphase des Zweiten Weltkriegs. Mit 20 war er Redakteur beim Nordwestdeutschen Rundfunk. 1950 berichtete er über Jugoslawien, danach aus Korea und Indochina. 1956 ging er nach Moskau, 1962 in die USA, wo er über die Morde an den Brüdern Kennedy und Martin Luther King berichtete. 1970 übernahm Ruge die Leitung des ARD-Studios Bonn, 1972 ging er für „Die Welt“ nach China, 1977 wieder für die ARD nach Moskau. Von 1981 an moderierte er das Polit-Magazin „Monitor“, 1984/85 war er WDR-Chefredakteur. 1987 zog es ihn noch einmal nach Moskau.
Seinen 85. Geburtstag am 9. August will der gebürtige Hamburger in seiner Wahlheimat München feiern – mit seiner Frau, seinen zwei Kindern und fünf Enkelkindern. Ruges nächstes Projekt steht noch nicht fest. Gibt es Länder, die er noch nicht kennt? „Ja, aber ich würde lieber noch mal in Länder gehen, in denen ich schon mal war, um zu sehen, was sich dort verändert hat. Am liebsten nach China.“ Unterwegs also mit Gerd Ruge – Fortsetzung folgt.
Gerd Ruge: Unterwegs. Politische Erinnerungen (Hanser, 320 Seiten, 21,90 Euro)