Icon Menü
Icon Schließen schliessen
Startseite
Icon Pfeil nach unten
Kultur
Icon Pfeil nach unten

Ärztliche Zimmergymnastik

Kultur

Ärztliche Zimmergymnastik

    • |
    • |
    Gefangen: Szene aus dem Stück „In Schrebers Garten“, das am 19. Februar in Würzburg uraufgeführt wird.
    Gefangen: Szene aus dem Stück „In Schrebers Garten“, das am 19. Februar in Würzburg uraufgeführt wird. Foto: Fotos: von Traubenberg, Natter, IT

    Er brüllte, kommunizierte mit Sonnenstrahlen, erlebte Engbrüstigkeitswunder. Er war überzeugt, zeitweise keine Speiseröhre zu besitzen, wollte sich in eine Frau verwandeln, weil sie am ganzen Körper Wollustnerven besäße, der Mann dagegen nur an zentraler Stelle. Paul Schreber ist seit bald 100 Jahren tot – aber bis heute einer der berühmtesten Patienten der Psychiatriegeschichte. Er schilderte ausführlich seine Befindlichkeiten, seinen „Seelenmord“, beschrieb seltsame „Anwunderungen“ an und in seinem Körper, entwarf seine eigene Theologie mit zwei Gottheiten.

    Daniel Paul Schreber (1842 – 1911), so sein voller Name, verfasste die „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“. Ein einzigartiges Dokument. Es führte in Fachkreisen zu konträren Interpretationen über den tatsächlichen Geisteszustand des Verfassers. War er eine paranoide Persönlichkeit, also wahnsinnig? Oder eher gemütskrank? Schizophren? War er ein Opfer seines Vaters und dessen rigider Erziehungsmethoden? Oder einer, der seine Homosexualität unterdrückte? So sah es der Übervater der Psychoanalyse, Sigmund Freud. Es gibt andere Meinungen.

    Paul Schreber ist der Sohn von Moritz Schreber (1808 – 1861), der als Erfinder der Schrebergärten gilt. Doch mit den in Gartenkolonien angelegten Parzellen, in denen Kleingärtner gerne ihre Freizeit verbringen, hatte der Orthopäde und „Reformpädagoge“ nichts am Hut. Vielmehr wollte er mit neben Sportplätzen angelegten Beeten junge Menschen zu Ordnung und Verantwortung erziehen. Erst nach seinem Tod entstanden die ersten Schrebergärten.

    Gerader Geist in geradem Körper

    Zu Lebzeiten war Moritz Schreber für seine „Ärztliche Zimmergymnastik“ bekannt, ein Bestseller. Zudem erfand er mechanische Apparaturen wie den Gerad- oder Kopfhalter. Er war überzeugt, nur in einem geraden Körper könne sich ein gerader Geist entwickeln. Dazu gehörten auch gesunde Nerven. „Anti-Onanie-Schlaufen“, so Klaas Huizing, sollten seine Söhne Paul und Gustav vor nervenzerrüttenden Erregungen schützen. „Noch Mitte der 1960er Jahre stand in meinem Biologie-Buch, dass Onanieren zu Haarausfall führt“, erzählt Huizing und verweist schmunzelnd auf sein schütteres Haar. Das habe ihm viele Hänseleien eingebracht. Ihm sei Paul sehr ans Herz gewachsen, sagt der Professor am Lehrstuhl für Evangelische Theologie der Universität Würzburg und Autor vieler Bücher. 2008 ist sein Roman über Vater und Sohn Schreber erschienen. Nun hat er den Text bearbeitet, Sohn Paul in den Mittelpunkt gestellt. Das Schauspiel „In Schrebers Garten“ erlebt am 19. Februar im Mainfranken Theater Würzburg seine Uraufführung.

    Huizing teilt nicht die verbreitete Ansicht, Moritz Schreber sei ein Vertreter der Schwarzen Pädagogik gewesen. „Das stimmt so nicht.“ Sein Ansinnen sei vielmehr vom aufklärerischen Geist geprägt. „Er war, für die damalige Zeit sehr außergewöhnlich, gegen Prügel und Schreien in der Schule.“ Moritz Schreber verfolgte jedoch mit, so Huizing, „beklemmend kalter Barmherzigkeit“ seine Vorstellung vom aufrechten Körper, der mit Turnübungen vor organischer und geistiger Verkümmerung bewahrt werden sollte. Das Verharren mit angelegten Kopf- und Geradhaltern, Kinnbändern, Schulterriemen und den Schlaufen, die Selbstbefriedigung unmöglich machten, waren für den sensiblen Paul eine Qual und wohl ein Auslöser dafür, dass er als Erwachsener psychisch erkrankte.

    „Paul hatte ein schweres Leben unter seinem Vater, zerbrach an dessen hohen Erwartungshaltungen und Leistungsgedanken, an dessen Erziehungsmuster“, ist sich der Würzburger Theologe sicher. Für Huizing war der Vater besessen von einer „fixen Idee“, die er neurotisch überhöhte. Paul reagierte darauf mit viel Ehrgeiz, wurde zum höchsten Richter in Sachsen, zum Senatspräsidenten am Sächsischen Oberlandesgericht Dresden ernannt. „Er wollte es seinem Vater zeigen“, sagt Huizing. Gustav, der ältere Bruder, brachte sich im Alter von 38 Jahren um. Es gibt noch eine weitere Theorie, sagt Huizing, der für seinen Roman die Familiengeschichte genau recherchiert, Psychiater und Medizinhistoriker befragt hat. Beide Söhne litten womöglich an den Folgen der „Franzosenkrankheit“, der Syphilis, die sie aus Scham nicht behandeln ließen. Das würde zu dem prüden, lustfeindlichen Klima passen, in dem beide aufwuchsen. Als Studenten entrannen sie den Schlaufen ihres Vaters, tobten sich aus, kann sich Huizing vorstellen. 1884 kam Paul Schreber erstmals in die Nervenklinik des Leipziger Hirnforschers Emil Flechsig.

    Später wurde er von dem fortschrittlichen Psychiater Guido Weber behandelt, Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein bei Pirna. Er ermunterte ihn, die „Denkwürdigkeiten“ zu verfassen. Keine leichte Kost. Aber wohl nicht das Werk eines Geisteskranken. Schrebers Entmündigung wurde 1903 zurückgezogen. Er kehrte zu seiner Frau Sabine zurück. 1911 bekam er den nächsten Schub und starb. Huizing glaubt, dass Paul Schreber in der Anstalt Sonnenstein nicht unglücklich war, sich mit hoher Intelligenz auf mehreren hundert Seiten ein System erschuf, um seine Sehnsüchte zu erfüllen. „Heute muss man kein dickes Buch schreiben, um sich als Frau zu verkleiden.“ Paul Schreber habe Dinge angesprochen, „über die wir uns heute nicht mehr aufregen“. Das Leid der Betroffenen sei jedoch genauso.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden