Die Bildungsbürger sterben aus, die Jungen können mit den Ritualen nichts mehr anfangen“, analysierte „Der Spiegel“. Dunkel gekleidete Solisten vor dunkel gekleidetem Publikum: Die seit dem 19. Jahrhundert gepflegte Kultur des E-Musikonzerts („E“ wie ernst) sei überholt, so das Nachrichtenmagazin. Michaela Russ von SKS Russ – die Stuttgarter Agentur betreut die Würzburger Meisterkonzerte – kann das in etwa bestätigen. Mit dem Publikumsnachwuchs sieht es eher dünn aus: „Mein junger Kunde ist 50.“ Für Veranstalter werde es immer schwieriger.
Die Zukunft für Bach, Beethoven & Co. scheint düster, ob im Konzertsaal oder auf dem CD-Markt. Wie will sich ein junger Künstler, eine junge Künstlerin in diesem schwierigen Umfeld etablieren?
Können allein reicht nicht. Das weiß auch Ann-Helena Schlüter. Die junge Würzburger Pianistin wirkt aber kein bisschen pessimistisch, wie sie da im Café an ihrer Eisschokolade nippt und von ihrem Beruf erzählt. Sie trete sehr oft auf, auch international. Freilich: Lieber hätte sie weniger Auftritte, dafür mehr Gage pro Konzert. Aber das komme schon noch. Und die CD-Verkäufe? Leben könne sie davon nicht. „Aber es stimmt nicht, dass man nichts damit verdient.“ Allein beim Kirchentag habe sie 1000 ihrer Scheiben verkauft.
Die Altvorderen zelebrierten da oben auf dem Podium sich, ihr Können und die Musik – entrückt von denen da unten im Parkett. „Das Publikum ist ein bisschen dumm, denen brauchst du erst gar nichts zu erklären“: Schlüter stößt immer wieder auf diese Einstellung. Und findet sie falsch. „Ich mag's, wenn ich mit den Leuten reden kann. Manchmal geh' ich so darin auf, dass ich mich bremsen muss“, erzählt sie lachend. Nach dem Konzert lässt sie sich schon mal in die Noten blicken, in die sie Spielanweisungen gekritzelt hat, beantwortet Fragen („Was bedeutet dieses Herz da?“), verkauft CDs, signiert, plaudert.
Die etwas lockerere Atmosphäre senke die Hemmschwelle zum Klassikkonzert auch für Jüngere, glaubt sie. Nicht jeder aus der E-Musik-Zunft hat indes Entertainer-Qualitäten. Nicht jeder kann vor Publikum locker klassische Kompositionen erklären. Auch die in Würzburg und Leipzig lebende Ann-Helena Schlüter musste diese Offenheit erst üben: „An der Musikhochschule lernt man das eigentlich nicht.“
Vielleicht ein Fehler. Die jüngere Generation, verwöhnt durch die Möglichkeit, dank digitaler Technik überall und zu jeder Zeit ganz lässig jede Art Musik zu hören, ist für steife Konzertsaal-Kultur nicht mehr zu begeistern. Also: Raus aus dem Elfenbeinturm! Dass das funktioniert, zeigt David Garrett. Der ist als Geiger gar nicht so außergewöhnlich. Aber er schafft es – durch Crossover-Aktivitäten, durch lockere Moderationen in Konzerten –, sich als Künstler zum Anfassen zu präsentieren. Mit dem Erfolg, dass die Säle sogar dann voll sind, wenn asketische Brahms-Sonaten für Violine und Klavier auf dem Programm stehen.
Klar: Nicht jeder Klassiker kommt da hin, wo Garrett steht, und nicht jeder will das überhaupt. Aber die Richtung wird deutlich, in die sich Konzertbetrieb und Künstler bewegen müssen. „Man muss sich mehr als früher einfallen lassen, um Leute in ein klassisches Konzert zu locken“, sagt Veranstalterin Russ – was genau, dafür gibt es bislang freilich kein Patentrezept.
Das Schlüter-Rezept für Erfolg in der aktuellen Klassik-Situation heißt: Vielseitigkeit. Die ehemalige Studentin des Würzburgers Bernd Glemser hat noch mehr Eisen im Feuer: Sie komponiert, sie ist Liedermacherin, hat Jazz und ihre eigenen „Himmelslieder“ auf CD gepresst, schreibt Lyrik und Kurzgeschichten. Selbstverständlich ist sie im weltweiten Netz unterwegs. Man kann die Deutsch-Schwedin auf YouTube etwa mit Chopin erleben, mit Bach und mit Eigenem. Die Internetvideos sind für sie auch Werbemittel: „Vielleicht denkt dann mancher: ,Ach, das schau' ich mir mal an‘ und kommt ins Konzert.“
Sie gibt auch die üblichen Konzerte. Aber meist sind die Programme ihrer Klassikauftritte speziell: „Am Ende kommt ein Lied – entweder als Zugabe, oder als Programmpunkt.“ Auch das kann helfen, Brücken zu bauen und neue Publikumsschichten zu erschließen. Die in Nürnberg geborene Tochter des Pianisten Karl-Heinz Schlüter freut sich jedenfalls: „Die Säle, in denen ich spiele, werden immer größer.“
Dass sie als Songwriterin an den U-Musik-Bereich schrammt („U“ wie Unterhaltung), mögen eisenharte Klassik-Fans unseriös finden. „Manche Kollegen haben mir geraten, das mit den Gedichten und Liedern lieber zu lassen.“ Aber Ann-Helena Schlüter will zum einen ihre ganze Kreativität ausleben. Zum anderen kann sie mit ihrer aktuellen CD zeigen, wie seriös sie als Klassik-Pianistin ist: Ausgerechnet Bachs „Kunst der Fuge“ hat sie eingespielt, eines der komplexesten Stücke der Musikgeschichte. Ihre Doktorarbeit schreibt die mehrfach ausgezeichnete Künstlerin über Bachs geheimnisumwitterte letzte Komposition. Sie wird sie auch bei den Würzburger Bachtagen am 22. November spielen.
Der bekannte Cartoonist Martin Perscheid, mit dem sie ein Buch gemacht hat, hat Ann-Helena Schlüter und ihre Liebe zur „Kunst der Fuge“ karikiert. Die Musikern findet's gut. Das gibt der Seriosität eine augenzwinkernde Note. Die täte manchmal dem ganzen Kulturbetrieb gut.