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MÜNCHEN: Biografie bringt den Mythos Luise Rinser ins Wanken

MÜNCHEN

Biografie bringt den Mythos Luise Rinser ins Wanken

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    Luise Rinser 1977
    Luise Rinser 1977 Foto: Foto: dpa

    (dpa) Kurz bevor Luise Rinser (1911-2002) mit 90 Jahren in der Nähe von München starb, beschrieb sie ihre Arbeit als Schriftstellerin so: „Tiefer bohren, ich hab's gemacht.“ Sie habe den Dingen immer auf den Grund gehen wollen. Das hat nun auch ihr enger Freund José Sánchez de Murillo getan und die Biografie der Erfolgsautorin, deren Geburtstag sich am 30. April zum 100. Mal jährt, geschrieben. Titel: „Luise Rinser – Ein Leben in Widersprüchen“.

    Die Ergebnisse seiner Arbeit sind alles andere als erfreulich für sie. Denn Luise Rinser, so will er herausgefunden haben, war nicht die Frau, für die so viele sie gehalten haben und die sie selbst wohl gerne gewesen wäre. „Faktisch gesehen hat sie gelogen – uns alle angelogen“, sagt Sánchez de Murillo, und er bringt damit den Mythos Luise Rinser gehörig ins Wanken. Jahrzehntelang galt die Bayerin als Vorzeige-Deutsche, als moralisches Gewissen der Bundesrepublik – und als aufrechte Frau im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Die Wahrheit über eine der wichtigsten Vertreterinnen der deutschen Nachkriegsliteratur aber scheint eine andere zu sein, schreibt Sánchez de Murillo, der Rinser 1995 in Italien kennenlernte und für die Biografie eng mit ihrem Sohn Christoph zusammengearbeitet hat.

    Sie, die selbst später immer wieder den moralischen Zeigefinger erhob, wenn es um die Aufarbeitung der Nazi-Zeit ging, denunzierte offenbar unter dem Nazi-Regime sogar ihren jüdischen Schulleiter, um ihre Karriere als Lehrerin voranzutreiben. Rinser war außerdem Ausbilderin beim Bund Deutscher Mädel (BDM), haben zumindest die neuen Forschungen ergeben, und sie verdiente – ganz im Gegensatz zu ihren eigenen Angaben – als Drehbuchschreiberin für das Filmunternehmen UFA gutes Geld.

    An Adolf Hitler soll sie bewundernde Gedichte geschrieben haben. Auch wenn ihre spätere Inhaftierung und der Umgang der Nazis mit Kunst und Kultur ihr wohl irgendwann die Augen öffneten und Sánchez de Murillo keinen Zweifel daran hat, dass sie sich in der Bundesrepublik in eine glühende Demokratin verwandelte – eine Widerstandskämpferin war sie vorher wohl nicht. „Luise Rinser war in der Nazi-Zeit ebenso verstrickt wie viele andere“, schreibt Sánchez de Murillo. „Sie war am Anfang begeistert – wie viele andere auch.“ In seinem Buch nennt er sie „engagierte Nazi-Pädagogin“. „Das gängige Rinser-Bild, das sich auch in Artikeln und Nachschlagewerken findet, erstaunte mich“, schreibt der Biograf. „Es verfehlt Wesentliches, stellt schlicht Unwahres als Wahrheit da.“ Und daran – an diesem Mythos – hat Luise Rinser offensichtlich selbst hart gearbeitet. „Zweifellos geht die Irreführung auf Luise Rinser selbst zurück, auf ihre sogenannten autobiografischen Schriften.“

    Direkt nach dem Krieg sei sie von der Öffentlichkeit in die Rolle der „deutschen Jeanne d'Arc“ gedrängt worden, sagt Sánchez de Murillo. Die Deutschen hätten eine Integrationsfigur gebraucht – irgendwann habe sie dann selbst geglaubt, diese Figur sein zu können. Sie konnte nicht mehr zurück. Mehr als 30 Bücher, die in rund zwei Dutzend Sprachen übersetzt wurden, hat die 1911 geborene Lehrertochter geschrieben. Mehr als fünf Millionen Exemplare ihrer Werke – darunter die Erfolge „Mitte des Lebens“ (1950), „Mirjam“ (1983) und „Abaelards Liebe“ (1991) – wurden verkauft. 1984 schlugen die Grünen sie wegen ihres politischen Engagements sogar als Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten vor.

    Auch er selbst habe immer geglaubt, was sie ihm erzählte, sagt Sánchez de Murillo – erst nach ihrem Tod habe er die Facetten ihrer Persönlichkeit aufarbeiten können. „Solange sie lebte, war sie eine Freundin“, sagt er. „Beim Schreiben wurde sie für mich zu einer wichtigen Gestalt der deutschen Geschichte, zu einer der vielen zerrissenen Gestalten, welche die Nazi-Katastrophe hinterlassen hat.“

    José Sánchez de Murillo: Luise Rinser – Ein Leben in Widersprüchen, S. Fischer, 464 Seiten, 22,95 Euro.

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