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Das Sandmännchen: Der Triumph des Ostens

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Das Sandmännchen: Der Triumph des Ostens

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    Im Osten fuhr er ein Moped aus dem VEB „Fahrzeug und Gerätewerk Simson“ Suhl. Im Westen ritt er ein Fluggerät, das aussah wie ein Porsche-908-Rennwagen. Gebracht hat dem Fernsehsandmann West das Renommier-Gefährt (typisch Wessi!) nichts: Überlebt hat der bescheidene Ost-Sandmann.

    Die Geschichte des Fernseh-Sandmännchen ist auch eine Geschichte des geteilten Deutschlands, deutsch-deutscher Befindlichkeiten und Klischees. Vor 50 Jahren, am 22. November 1959, erlebte das Männchen mit der Zipfelmütze und dem weißen Kinnbart im DDR-Fernsehen sein erstes Abenteuer auch, weil zwei Machtblöcke im Clinch lagen. Jeder wollte zeigen, dass er die bessere Technologie hat.

    Die Russen schlugen die Amis im Wettlauf um den ersten Erdsatelliten, als sie am 4. Oktober 1957 ihren „Sputnik“ in die Umlaufbahn schossen. Die DDR schlug die BRD im Wettlauf um eine Fünf-Minuten-Tricksendung im Fernsehen. Im real existierenden deutschen Sozialismus mussten halt etwas kleinere Brötchen gebacken werden als beim großen Roten Bruder im Osten. Doch unterschätze keiner die Kraft der kleinen Errungenschaft! Der Sputnik ist längst abgestürzt. Sandmännchen Ost lebt immer noch.

    Die Entscheidung, ob Ost oder West das erste Sandmännchen auf die seinerzeit noch raren Fernsehschirme schicken würde, fiel denkbar knapp. Beim DDR-Fernsehen hatte man dank einer Programmvorschau (man guckte halt doch mal in West-Sendungen rein) mitgekriegt, dass der Sender Freies Berlin an einer Sandmannfigur arbeitete. Man mobilisierte alle Kräfte, und in angeblich nicht einmal zwei Wochen schuf der Bühnen- und Kostümbildner Gerhard Behrens das Ost-Sandmännchen. Aufwendige Tricktechnik erweckte die Puppe zum Leben. Die Melodie zu dem Gute-Nacht-Spot für Kinder soll Wolfgang Richter gar in nur einer Nacht aufs Notenpapier gesetzt haben.

    Da kamen die Wessis nicht mit. West-Sandmännchen ging erst am 1. Dezember 1959 in West-Berlin über den Äther.

    Vielleicht lag es an der östlichen Hast, den Klassenfeind zu schlagen, dass die allererste „Sandmännchen“-Folge Protest hervorrief: Das Männchen mit der Zipfelmütze und dem Ulbricht-Bart schlief in der letzten Szene ermüdet an einer Straßenecke ein. Das brach kleinen Zuschauern das Herz – sie schrieben Briefe an den Sender und boten dem Zwerg ihr Bettchen an. Linientreue Erwachsene waren entsetzt, weil da gezeigt wurde, wie ein älterer Herr im Freien übernachtete – ein Obdachloser womöglich? So etwas gab es nicht im sozialistischen Einheitsstaat, da ging es allen gleich gut, und jeder hatte eine Wohnung in der Platte, manch einer wohnte sogar in einer Villa in Wandlitz. Die Realitäten des Arbeiter- und Bauernstaates störten das Sandmännchen aber nie. Es blieb nicht beim Simson-Moped. Sandmännchen Ost reiste in fantastischen Flugzeugen, in Raumkapseln und in wunderschönen Automobilen. 200 fahr- und fliegbare Untersätze entwarf Harald Serowski, Bühnenbildner beim DDR-Fernsehen, der auch für das Otto-Lilienthal-Museum Anklam arbeitete, für den Wicht. Da saß dann auch der Erwachsene mit tränenden Augen vor dem Fernseher – nicht wegen des Sandes, den das Männchen den Leuten in die Augen streut, sondern weil er von richtigen Autos und von weiten Reisen träumte und an den real existierenden Trabant dachte, der draußen parkte . . .

    Sand in die Augen streuen: Das hatten die Politiker im Osten drauf (bei West-Politikern soll's das aber auch geben). Der Puppen-Sandmann war eher unverdächtig. Natürlich arbeitete er nicht gerade dem Kapitalismus in die Hände, feierte durchaus auch mal die fleißigen Kinder einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG)) oder Bauarbeiter, die an einer Plattensiedlung schufteten. Meist war das Männchen aber unpolitisch. Nur 30 von den vielen Puppenfilmen, die zwischen 1959 und dem Ende der DDR produziert wurden, seien eindeutig parteipolitisch gefärbt, zählte die Zeitung „Die Welt“. Der große Rest war überparteilich-märchenhaft.

    Das rettete die berühmteste Fernsehfigur der DDR über die Jahrzehnte hinweg. Im Westen war's nicht so einfach. Da gab's – typisch pluralistische Gesellschaft – über die Jahrzehnte hinweg mehrere Sandmänner. Den ersten Sandmann in West-Deutschland gestaltete der heute in Würzburg lebende Wolfgang Hensel 1961 für den Hessischen Rundfunk. Der Fünf-Minuten-Spot war eine Kombination aus Puppenspiel und Schattentheater. 25 Folgen entstanden. Hensel war in den 50er Jahren mit seiner Puppenspielergruppe „Die Pirnaer“ in Ostdeutschland erfolgreich, dann aber wegen zunehmender Repressalien aus der DDR geflohen. Auch beim NDR lief 1962 ein Hensel'sches Sandmännchen zur Gute-Nacht-Zeit.

    Die 70er Jahre waren in Westdeutschland dann eher unmärchenhaft. Sandmann kam aus der Mode. Das Einheits-Sandmännchen Ost machte eisern weiter im guten alten Stil – ob aus Durchhaltewillen, oder weil sozialistische Strukturen schwerfälliger sind, wer weiß das schon. Zur Sandmännchen-Zeit – fünf vor Sieben – schalteten jedenfalls auch Westler das Ostfernsehen eingeschaltet, was sonst so gut wie nie vorkam.

    1991 drohte auch dem guten alten Ostmännchen das Aus, als der Deutsche Fernsehfunk DFF, das ehemalige DDR-Fernsehen, den Betrieb einstellte. Die Bürger im Osten gingen auf die Barrikaden – nach den Montagsdemonstrationen voll Vertrauen in die Macht des Volkes. Sie wollten ihr Sandmännchen behalten. Sie durften. Heute ist Sandmännchen-Ost zum gesamtdeutschen Sandmännchen geworden, das auf diversen Kanälen die Kinder zu Bett ruft.

    Nicht jeder ist glücklich über das Verschwinden des West-Wichts. „Ich will unser liebes West-Sandmännchen haben – und zwar sofort“, fordert eine 36-Jährige im Diskussionsforum der Internet-Plattform „sandmaennchen.de“. Aber weil dem satten Wessi-Kapitalisten der Wille zur Revolution fehlt, wird daraus wohl nichts. In punkto Sandmännchen hat der Westen den Kampf der Systeme verloren.

    Alle Artikel zur Serie „20 Jahre ohne Mauer“ im Internet: www.mainpost.de/geschichte

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