Natürlich kam auch an diesem Kissinger-Sommer-Abend der Augenblick, an dem David Garrett gar nicht mehr verhehlen mochte, dass er ein Geiger neuzeitlicher Prägung ist und kein Musikus der starreren, konservativen Manier: Als das Publikum entgegen aller Klassikgesetze bereits nach dem ersten Satz des Brahms-Violinkonzertes scheu zu applaudieren wagte, riss der 32-Jährige die Arme wirbelnd in die Höhe und stachelte – „come on!“ – die Besucher wie ein Rocker sogar zum Beifallgeben an.
Woanders wäre die Nase gerümpft worden, doch er darf das. Am Ende stand, und genau das ist ja die Absicht, ein leidenschaftlicher Auftritt, der schier den strengen Rahmen sprengte. Pure Masche sei das, heißt es manchmal. Doch, und das ist die eigentliche Kunst, es wirkte nicht so. Fast schüchtern begann Garrett, wie wenn er sich etwas verloren vorgekommen wäre im edlen Regentenbau, der so ausverkauft war, wie es ausverkaufter nicht ging. Über 1200 Zuschauer saßen sogar in den Gängen oder sonst nicht geöffneten Seitenflügeln – Damen in Dirndln und kurzen Hosen, unglaublich viele junge Frauen, Männer überwiegend ohne Krawatten. Er selbst trug wie exakt sechs Wochen davor beim Crossover-Open-Air mit damals 12 000 Begeisterten an der Würzburger Residenz Unterhemd und Schlabbersakko, Jeans, dicke Stiefel.
Und er lächelte, er lächelte tatsächlich in sich hinein, versunken. Derlei Demut lässt sich kaum vortäuschen. David Garrett scheint sein Instrument, seine Musik, auch die spätromantisch schwere, zu lieben; er spielt nicht nur auf, sondern mit der Geige. Dieser Mann mit den mindestens zwei Seelen in seiner Brust, er ist wahrscheinlich nur dann komplett, wenn er moderne und historische Klänge gleichermaßen im trendigen Freistil inszenieren darf. Dem Altvater Brahms näherte er sich vorsichtig, liebevoll, versonnen: Das herrliche „Orchestra Sinfonica di Milano Giuseppe Verdi“ half ihm bereitwillig in die Solisten-Spur.
Den ersten Satz erarbeitete, erkämpfte, erspielte er sich, interpretierte er nicht als gewaltigen Schmachtfetzen, sondern als kleines Sahnetörtchen. Im zweiten Satz zeigte Garrett dann, dass er langsame Passagen entgegen anderer Meinungen wunderbar fein umzusetzen versteht und das Laute keineswegs seine starke Seite ist. Den feurigen dritten Satz präsentierte er schließlich bunt und mitreißend mit nun viel Ego als Melodikhammer – Respekt! Danach trampelten die Menschen, auch die der alten Schule, mit den Füßen, brach der Kissinger-Sommer-Rekord an Handy-Fotos. Garrett spielte noch rasch von Paganini das „Carnevale di Venezia“-Liedchen, hierzulande bekannt als „Mein Hut, der hat drei Ecken“, wozu er das Mailänder Ensemble unter Zuhilfenahme seines Showtalents zupfen ließ. Es folgte eine seriöse Bach-Sarabande – das war’s.
Fast vergessen war zu diesem Moment, dass das 70-köpfige Orchester, bevor der Solist dazugekommen war, die „La Forza del Destino“-Ouvertüre von Verdi nebst der Fünften von Beethoven energisch und prachtvoll dargeboten hatte: Zehn Celli und sieben Bässe hört man nicht häufig. Wie gut Dirigent John Axelrod aus Texas mit seinem Temperament, als wolle er sämtliche Pauken und Trompeten selbst bedienen, zu Garrett passen würde, hatte sich da bereits verheißungsvoll angekündigt.