Der US-Schriftsteller Norman Mailer sagte einmal über die Fotografin Diane Arbus (1923-71), ihr eine Kamera zu geben, bedeute, der Frau eine Granate in die Hand zu drücken. Die New Yorkerin russisch-jüdischer Abstammung, in reichen Verhältnissen aufgewachsen – der Vater war Pelzhändler mit eigenem Kaufhaus –, erweiterte die künstlerische Fotografie um den psychologischen Aspekt. Schöne und Reiche, Mächtige und Intellektuelle interessierten sie nicht.
Arbus war auf „die Exzentriker“, wie sie selbst sagte, fixiert. Sie ging dorthin, wo sie waren und wo sonst niemand hinging außer ihr: zu Transvestiten, abgetakelten Nutten, psychisch Gestörten, Verwachsenen und Krüppeln, in Irrenanstalten, Gefängnisse, auf Jahrmärkte mit skurrilen Menschen, in Varietés, Spelunken und Altersheime. Ihre Objekte waren Surreale, Verrückte, aus der Gesellschaft gefallene, abstoßende Außenseiter, mit melancholischen, wilden und verzweifelten Gesichtern hinter dem amerikanischen Traum der 50er und 60er des 20. Jahrhunderts.
Nun werden Diane Arbus' Bilder zum ersten Mal in einer großen Retrospektive in Deutschland ausgestellt. Der Gropius-Bau in Berlin bietet dafür ein stattliches Ambiente, fast zu pompös für diese Schreckensbilder, die in ihrer Menge – rund 200 Fotografien hängen in den Fluchten des Gebäudes – irritieren. Manches Bild übt einen Sog auf den Besucher aus, andere verstören.
Eines trägt den Titel „A naked man being a woman, N.Y.C. 1968“ und zeigt einen Mann, der vor einer Pritsche posiert und seinen Penis mit den Oberschenkeln eingekniffen hat. Ein Abdruck liegt auf der flachen Brust, als habe er gerade einen eng sitzenden BH abgelegt. Er ist geschminkt, umgeben von Papieren, Wäsche und einer Aludose. Ein Mann, der eine Frau sein will – damals noch ein Skandal.
Wiederkehrende Depressionen
Die Fotografin war durch ihren Mann Allan Arbus, den sie gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet und mit dem sie zwei Töchter hatte, zur Fotografie gekommen. Das Leben als Mutter genügte ihr nicht, sie wollte sich künstlerisch betätigen, auch um dadurch mit ihren wiederkehrenden Depressionen fertig zu werden. 1969 ließ sich das Paar scheiden. Ein Schock für Diane Arbus, sie wollte ihm mit Hyperaktivität entkommen, die sich steigerte zum Ehrgeiz, fast zur Hybris. Sie wollte immer nur am Leben dran sein.
Wenige Monate vor ihrem Suizid besuchte sie Berlin. Typisch für sie, dass sie die Mauer interessierte und den Wunsch hatte, Brechts männlich wirkende Witwe Helene Weigel, die „Mutter Courage“, ablichten zu dürfen. Zurück in New York, starb sie mit 48 an einer Schlafmittelüberdosis.
Ein Jahr danach wurde sie als erste US-Fotografin bei der Biennale in Venedig ausgestellt, dann im MoMA in New York, der Kunstmarkt trieb den Preis für ihre Fotos in die Höhe – bis zu 250 000 Dollar für einen Abzug. Aber Besucher waren über die Monsterschau entsetzt, sie spuckten auf die verglasten Bilder, ständig mussten Reinigungskräfte kommen. Die Tote hinterließ den Lebenden eine Botschaft, die sie nicht erkennen wollten: von einem Amerika der Fratzen, von Menschen, die niemand wollte, keiner liebte.
Die Fotos in der Ausstellung sind nicht chronologisch geordnet, erklären keine Zusammenhänge, haben nur Titel und Jahreszahlen – die meisten zeigen soziales Elend. Die beiden aufgedonnerten Damen im Automatenrestaurant, von keinem Kellner umgeben; der kurzbehoste Junge im Central Park mit Spielzeuggranate in der Hand; der pickelgesichtige Kriegstreiber mit seinem „Bomb Hanoi“-Button am Revers; Winkende mit Sternenbannerflaggen bei Paraden; Paare mit Babys. Es war die Zeit der Kriege: Korea, Vietnam, der Kalte Krieg.
Die Fotografin war hellsichtig, sie wollte „das Tatsächliche erfassen“. Dazu gehörten die Vergessenen und Ausgestoßenen, von denen sonst kaum jemand erfahren hätte. „Wenn du jemals mit einem zweiköpfigen Menschen gesprochen hast, dann weißt du, dass der etwas weiß, was du nicht weißt“, hat Diane Arbus einmal gesagt. Ihre Bilder wecken nicht nur das Voyeuristische im Betrachter, sondern konfrontieren ihn auch noch 40 Jahre nach dem Tod der Künstlerin mit dem, was es nach wie vor gibt. Das Randständige, Absurde und doch Wahre sind die unglaubliche Kraft dieser Fotografie.
Diane Arbus: Martin-Gropius-Bau, Berlin, bis 23. September, geöffnet täglich außer Dienstag von 10 bis 19 Uhr (Kinder und Jugendliche unter 16 haben keinen Zutritt). Internet: www.berlinerfestspiele.de
Buch-Tipp
Diane Arbus: Revelations / Offenbarungen (Schirmer/Mosel, 352 S., 500 Farbabb., davon 200 Duotone-Tafeln, 49,80 Euro). Der 2003 erstmals erschienene, jetzt in englischer Originalausgabe neu aufgelegte Bildband gilt als umfangreichste Arbus-Monografie.