Mozarts Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“ nach langen Jahren wieder auf der Meininger Bühne. Da kann man mit einem von der Musik entzückten Publikum rechnen. Aber: Wie steht es um die Geschichte, wie um die Botschaften – und in welcher Zeit leben Bassa Selim und Osmin, Konstanze und Blonde, Belmonte und Pedrillo?
Das ist die spannende Frage zu dieser Inszenierung von Roman Hovenbitzer, in der der junge Meininger Bülow-Preisträger von 2015, Aris Alexander Blettenberg, die Hofkapelle souverän dirigiert. Das bleibt die spannende Frage, als sich nach der Ouvertüre der Gazévorhang hebt und auf der Vorderbühne bereits der Weg der Handlung vorgezeichnet ist. Nein, Konstanze wird nicht von Seeräubern entführt. Sie liest zuhause ein Buch (Erzählungen aus tausendundeiner Nacht?), hört Bassa Selims Stimme aus dem Off, packt die Koffer, hinterlässt einen Brief und folgt dem Ruf des Orients.
Die psychologische Entwicklung bleibt nebulös
Aus Langeweile? Aus Überdruss? Aus Überzeugung? Aus Neugierde? Aus Naivität? Aus Lust am Abenteuer? Die Gründe sind nicht eindeutig zu entschlüsseln. Wie überhaupt die psychologische Motiventwicklung in der knapp dreistündigen Inszenierung (mit zwei Pausen) etwas nebulös bleibt. Vor allem wegen des Widerspruchs zwischen Originallibretto und der Herz und Seele umschmeichelnden Töne auf der einen Seite und der modernen Charakterzeichnung der Figuren auf der anderen.
Jedenfalls befinden wir uns nach historischen Filmprojektionen aus der Anfangszeit des Palästinakonflikts vom Bühnenbild her, von der Kleidung (Kostüme: Anna Siegrot) und vom Habitus der Personen ganz im Hier und Jetzt. Und diese Gegenwart wird von Christian Rinke hochsymbolisch ins Bild gesetzt. Mit einer schräg gelagerten Kistenbühne („Open carefully!“) in der gegensätzlich schräg gelagerten Hauptbühne und einem Flickwerk aus Wand- und Deckenelementen. Die Botschaft: Die Welt ist ständig aus den Fugen, egal ob östlich oder westlich.
Dieser Osmin könnte in jedem autoritären Regime Handlanger sein
Vor und in den Gemächern und Büroräumen der Bassa Selim Oil Company (in der Kiste) spielt sich das emsige Leben ab. Der Chor (Leitung: André Weiss) tritt zweimal dezent in den Seitenlogen auf. Hier ein paar kopftuchtragende Sekretärinnen, dort die freizügigen Europäerinnen. Konstanze (Elif Aytekin) ganz leidende Dame, die am liebsten gleichzeitig in zwei Welten leben würde. Blonde (Monika Reinhard) jedoch Geschöpf der Emanzipation – kokett, verführerisch und selbstbewusst.
Im karg designten Living Room schmachtet derweil der sich von Hollywoodküssen am Flachbildschirm inspirierende Ölmagnat (Michael Jeske). Daneben ein stets wütender, geschniegelter und gebügelter Osmin (Daniel Pannermayr), der in jedem west-östlichen autoritären System Handlanger sein könnte. Und vor den Toren zwei etwas windig wirkende Möchtegern-Dandys in hellen Leinenanzügen, Belmonte (Remy Burnens) und Pedrillo (Robert Bartneck), mit ihren halbgaren Versuchen, die Geliebten zu befreien.
Erzählt wir letztlich eine andere Geschichte als die erwartete
Spätestens wenn die Figuren Profil gewinnen, wird es richtig spannend. Dazwischen, im zweiten Akt, zieht sich die Handlung entscheidungsarm dahin. Kann das Ganze wirklich in operettenhafter Glückseligkeit enden? Langsam aber sicher entdeckt man, wie ironisch der Regisseur die Figuren angelegt hat. Bassa Selim und Konstanze erscheinen als einzig wahrhaft Liebesleidende. Michael Jeske (in seiner Sprecherrolle) mimt den Herrscher überlegt, mit sichtbar gebremster Begierde. Elif Aytekin wirkt in ihrem Gestus und in ihrem inbrünstigen Gesang wie eine aus der Zeit gefallene Hin- und Hergerissene.
Die Arien in ihren unendlichen Höhen und Tiefen und das Klanguniversum aus dem Orchestergraben benebeln zwar immer wieder die Sinne – erzählt aber wird eine andere Geschichte als die erwartete. Bis man den aufgenötigten Spagat zwischen Tönen und Handlung beendet, vergeht einige Zeit. Dann aber fällt es einem wie Schuppen von den Augen: Ja, so könnte es sein, wenn heute Orient und Okzident mit Sehnsüchten von Menschen aufeinandertreffen, die alltäglicher sind als sie anfänglich scheinen.
Nächste Vorstellungen: 29. Mai und 15. Juni, jeweils 19.30 Uhr. Kartentelefon: (03693) 451 222. www.meininger-staatstheater.de