Er ist wahrscheinlich der einzige Kameramann, der selbst Star-Status genießt: Michael Ballhaus wurde in Hollywood zum Wegbegleiter großer Regisseure wie Martin Scorsese, Wolfgang Petersen oder Mike Nichols. Seinen Ausstand in den USA gab er 2006 mit Scorseses Oscar-Triumph „Departed – Unter Feinden“. Ballhaus, dessen Eltern Lena Hutter und Oskar Ballhaus das Fränkische Theater Schloss Maßbach gründeten, wuchs im unterfränkischen Wetzhausen (Lkr. Schweinfurt) und in Maßbach auf. Er lebt heute in Berlin und New York und hat auch noch ein Domizil im Fränkischen. Für die Verfilmung des autobiografischen Buches „3096 Tage“ von Natascha Kampusch kehrte der 77-Jährige noch einmal aus dem Ruhestand zurück. Regie führte seine Ehefrau Sherry Hormann („Wüstenblume“). Ein Gespräch mit Michael Ballhaus über den Überlebenskampf von Natascha Kampusch und die schwierigen Dreharbeiten.
Frage: Haben Sie den Fall Kampusch seinerzeit verfolgt?
Ballhaus: Natürlich. Natascha Kampusch ist einfach vom Erdboden verschwunden, das führte zu vielen Spekulationen. Nach ihrer erfolgreichen Flucht sickerten mehr und mehr Informationen durch. Aber erst als ihr Buch erschien, wurde wirklich deutlich, um was für einen Fall es sich handelte. Ich empfand das Geschehen als sehr ungewöhnlich und dramatisch. Der Täter wollte weder Geld, noch wollte er das Mädchen vergewaltigen. Er wollte sie als seine Frau großziehen. Es ist das Konzept eines schwer gestörten Menschen.
Musste man diesen Fall wirklich ins Kino bringen?
Ballhaus: Ich bin der Meinung, ja. Anhand dieses Falles kann man zeigen, dass ein junger Mensch dazu in der Lage ist, so etwas durchzustehen. Acht Jahre lang eingesperrt zu sein und mit einer einzigen Bezugsperson zu leben, ist eine unglaubliche Leistung für ein Kind. Am zweiten Tag der Entführung kam Priklopil in ihren Bunker und erzählte ihr eine Geschichte. Danach hatte Natascha Angst, allein gelassen zu werden, und sagte: „Meine Mama gibt mir immer einen Gutenachtkuss.“ Dieser Satz eines zehnjährigen Kindes an seinen Entführer hat mich umgehauen. Dieses Kind wollte überleben. Man sollte seine Geschichte erzählen.
Befürchten Sie, dass sich viele Menschen den Film aus Sensationslust anschauen werden?
Ballhaus: Darüber macht man sich natürlich Gedanken. Es wird Menschen geben, die sich den Film aus falschen Motiven ansehen, und auch Menschen, die aus vermeintlich richtigen Motiven nicht reingehen wollen. Letzteres finde ich auch nicht gut. Man sollte den Mut aufbringen, sich mit diesem Schicksal auseinanderzusetzen. Was bedeutet es, wenn man als junger Mensch acht Jahre lang an eine einzige Kontaktperson gebunden ist? Dass Natascha das geschafft hat und im Laufe der Entwicklung sogar die Stärkere wurde, ist etwas ganz Besonderes.
Was hat Sie dazu bewogen, noch einmal hinter die Kamera zurückzukehren?
Ballhaus: Sherry und ich haben uns gemeinsam mit dem Stoff beschäftigt, und ich habe ihr geraten, diese tolle und spannende Geschichte zu machen. Eigentlich hatte sie dem Bernd (Anmerk. d. Red: Eichinger) abgesagt. Als er überraschend verstarb, kam Produzent Martin Moszkowicz wieder auf Sherry zu und sagte: „Nun musst du es machen.“ Und sie sollte mich doch mal fragen, ob ich die Kamera übernehmen würde. Wir mussten uns erst einmal darüber klar werden, was das für uns beide bedeutet. Wir haben ausführlich diskutiert und am Ende entschieden, es zu versuchen.
Haben Sie Frau Kampusch kennengelernt?
Ballhaus: Ja. Sie kam an den Set und hat sich alles angeschaut. Sie war fasziniert und fast erschrocken, dass alles so authentisch und genau dem entsprach, was Sie in Erinnerung hatte. Am längsten verweilte sie in dem Schlafzimmer.
Hatten Sie den Eindruck, dass Frau Kampusch noch in einer Rolle gefangen ist?
Ballhaus: Ja, dieses Gefühl hatte ich. Sie war sehr zurückgezogen und sehr scheu. Man hatte das Gefühl, dass sie in ihrem Kopf eigentlich noch immer in diesem Bunker ist. Es wird Zeit brauchen, bis sie völlig frei ist. Immerhin konnte sie acht Jahre lang nur mit einem Menschen kommunizieren. Es dauert lange, so etwas zu überwinden. Ich hätte sie sehr gern dabei beobachtet, wie sie sich diesen Film anschaut. Vielleicht hilft er ihr auch. Sie fand ihn ja ausgezeichnet.
In einer besonders eindrucksvollen Szene bittet Amelia Pidgeon, die Darstellerin der zehnjährigen Natascha, um etwas zu essen. Sie bettelt, schmeichelt, schreit es heraus. Wie oft mussten Sie diese ungeschnittene Nahaufnahme wiederholen?
Ballhaus: Ich kann es nicht mehr genau sagen, aber wir haben es ein paar Mal gedreht. Es kostet dieses Kind viel Kraft, und man kann es nicht zu oft wiederholen, sonst wird es mechanisch. Bei ihr war das gar nicht der Fall. Ich glaube, wir haben es nur dreimal gedreht. Zwischendrin gab es sehr intensive Gespräche zwischen Sherry und ihr. Sherry hat sie gewissermaßen in diese Szene hinein navigiert, ohne sie zu verletzen. Aber wir waren alle fix und fertig nach dieser Sache.
Redet man auch nach Feierabend über das Projekt?
Ballhaus: Wenn man den ganzen Tag über an einer solchen Geschichte gedreht hat, kann man gar nicht aufhören. Man ist emotional erschüttert und platt, wenn man nach Hause kommt. Man muss sich regenerieren, man schaut sich die Muster an. Das ist nicht einfach, es war eine harte Zeit. Ich bin der Meinung, dass es das wert war. Sicherlich ist es starker Tobak. Aber wenn man sich nicht dagegen sträubt, Emotionen zuzulassen, lohnt es sich für den Zuschauer, sich diesen Film anzuschauen.
Haben Sie nun wieder Blut geleckt?
Ballhaus: Ich bin 77 Jahre alt. Ich habe genug Filme gedreht und genug Geld verdient. Ich muss nicht mehr ran, und darüber freue ich mich. „3096 Tage“ war eine echte Ausnahme.