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Würzburg: Fortsetzungsroman, Folge 4: Wendung bei "Für immer Elisa"?

Würzburg

Fortsetzungsroman, Folge 4: Wendung bei "Für immer Elisa"?

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    Für immer Elisa - Folge 4
    Für immer Elisa - Folge 4 Foto: Ivana Biscan

    Werners Freund Otmar, mit dem er seine Spaziergänge am Main zu absolvieren pflegte, hielt sich neuerdings zu oft in Arztpraxen auf, wollte das aber, obwohl er sichtbar kränkelte, nicht zugeben. Er verfiel auf Ausreden, weshalb für ihn das Gewohnte ausfallen müsse, erfand dabei allerlei Verwandtschaft, Vettern, Kusinen, Nichten und Neffen, von denen Werner bisher noch nichts gehört hatte. Du weißt, im Sommer zieht es sie alle nach Würzburg. Weltkulturerbe, Mozartfest und so. Da muss ich mich doch um sie kümmern. Im Herbst, sagte er, sind sie alle wieder fort und wir können … wir können wie üblich.

    Werner raffte sich, unterstützt von Eva, auf, das Übliche alleine fortzusetzen, um nicht wie Otmar zu ermatten. Eva hatte ein immer waches Auge für ihn, brachte ausgerissene Werbeseiten aus ihrer Fernsehzeitung mit und verwies ihn auf allerlei Altersmittelchen, die dort gegen eine Vielzahl von Beschwerden angepriesen wurden. Es ging um Brennen, Kribbeln und Taubheitsgefühle in den Füßen, um lästige Schwindelgefühle, um Gelenkschmerzen und Schlafstörungen. Alles ohne Chemie, rein pflanzlich, versteht sich, und ohne bekannte Neben- oder Wechselwirkungen. Alles aus dem Garten der Natur und mit dem Vorzug, rezeptfrei zu sein. Seit es den Apotheken gesetzlich verboten war, den Kauf ärztlich verschriebener Mittel durch Zusatzgeschenke zu honorieren, hatte sich Eva auf rezeptfreie Einkäufe spezialisiert, die nun erst recht belohnt wurden mit Tempotaschen- und Brillenputztüchern, Teeproben für Niere, Blase und Magen, Tütchen mit Magnesium, Kalzium und Traubenzucker. Werner ließ Eva walten und nahm ihre Taschentücher und den Traubenzucker auf seine einsamen Wanderungen mit.

    Otmar fehlte ihm. Sie hatten nie viel miteinander gesprochen, aber immer den gleichen Schrittrhythmus und den gleichen Blick auf die Landschaft und auf entgegenkommende Wanderer und Radfahrer bewahrt. Ziel war stets ein Bänkchen gewesen neben einem alten Bildstock, den ein Bauer und seine Bauersfrau im Jahre 1786 der Hl. Maria gestiftet hatten. Dieses Datum und die Namen der beiden waren in der verwitterten Inschrift gerade noch zu entziffern.

    Diesmal war das Bänkchen schon besetzt, belegt von einem Mann in Werners Alter, der, auf eine düstere Weise in sich gekehrt, seinem Gruß keinerlei Beachtung schenkte. Ein unguter Anblick, weshalb Werner zögerte, neben dieser Gestalt Platz zu nehmen. Allerdings, ein leichter Schwindel hatte nach ihm gegriffen … nicht bedrohlich, aber doch …, was ihn bewog, sich so auf der Sitzfläche des Bänkchens niederzulassen, dass der andere nicht einmal beiseite rücken musste. Platz wäre eigentlich für sechs, nicht nur für drei Arschbacken gewesen. Der Mann reagierte. Er warf einen fast blinden Blick auf Werner, erhob sich und sagte: Ja, ja, das Alter ist weißgott ein Arschloch. Dann schlurfte er auf gichtigen Beinen in Richtung Eibelstadt davon. Seine Gestalt schien sich zwischen den Haselbüschen, die den Weg säumten, aufzulösen, so dass nichts von ihm blieb als eine Leere.

    Als Kind hatte Werner in der Brauerschen Familienatmosphäre oft Langeweile gehabt, nicht zu vergleichen mit der großen Leere, die ihn jetzt und nicht zum ersten Mal befiel. Diese hatte eingesetzt, als der Zirkus Janko mit Elisa aus Würzburg verschwunden war. Heute wäre das kein Problem mehr. Man müsste lediglich Janko googeln und würde ihn auf jeden Fall wiederfinden einschließlich der Termine und der Orte, an denen er irgendwo gastieren würde. Und dort dürfte man auch Elisa vermuten.

    Den Zirkus gibt es freilich längst nicht mehr. Wer könnte sich heute noch leisten, mit einem Minizoo durch die Lande zu fahren. Ein Elefant. Ein Kamel. Ein Pferd mit wippendem Kopfschmuck. Ein Zebra und ein paar dressierte Ziegen. Und ein oder zwei Clowns, die Scherze machen und das Publikum eines Landes erheitern sollen, das von ihrem Chef aus guten Gründen gehasst wurde. Weil er dieses Land im KZ und Bürger dieses Landes am eigenen Leib als KZ-Wächter erfahren hatte. Und der, nach dieser Zeit, seine Leute ausschickte in die Stadt mit einer Sammelbüchse – in die Domstraße, zur Residenz, zur Marienkirche und Franziskanerkirche, auf die Alte Mainbrücke – mit der Bitte um eine kleine Spende für die Tiere des Zirkus‘ im Sommerquartier. Die Deutschen waren nicht immer menschenlieb gewesen. Aber tierlieb immer, sodass in den Sammelbüchsen oft mehr Geld war als in der Abendkasse des Zirkus' mit seinen fremdartigen Gestalten. Nehmt eure Wäsche ab von den Leinen und holt Eure Kinder ins Haus, die Zigeuner kommen!

    Ja! So hatte auch sein Vater gedacht. Dass Werner wegen Elisa mit diesem Tyrannen gebrochen hatte, bedauerte er nicht. Das gab der Leere, die in ihm war, sogar einen gewissen Sinn. Werner selbst hatte bedingungslos geliebt, sein Vater wusste gar nicht, was Liebe ist. Und jemandem, der nicht liebt, ist man zu nichts verpflichtet.

    Werner holte eines der Papiertaschentücher heraus, das Eva den Apothekern abgerungen hatte, und wischte sorgfältig Vogelscheiße weg, die ihn bisher daran gehindert hatte, die ganze Breite der Bank zu besetzen. Er würde hier, vielleicht den ganzen Tag, regungslos sitzen und Wanderer, Radfahrer und Flussschiffe an sich vorbeiziehen lassen. Mit Flussschiffen kannte er sich ja aus. Das hatte er vom Eigner des Columbus gelernt. Flaggen, Abmessungen, Bruttoregistertonnen, Höhe der ausgefahrenen Kapitänsstände im Vergleich zur Höhe der Brückenbögen gemessen am jeweiligen Wasserstand. Die Stella wird den Kapitänsstand runterfahren beziehungsweise senken müssen, die Medusa nicht. Vorsicht auch an den Schleusen! Erst kürzlich ist ein Kiesfrachter, dessen Ruder streikte, in der Schweinfurter Schleuse gegen die Schleusenmauer gekracht.

    Schweinfurt?

    Ausgerechnet in Schweinfurt sollte damals der Zirkus aufgespürt worden sein! In Werners Familie, der Familie Brauer, Haushaltswaren und feine Porzellane für den gehobenen Bedarf, war auf Schweinfurt immer hinuntergeschaut worden. Alte und immer noch Bischofsstadt gegen aufgelöste Reichsstadt, Bürgertum gegen Arbeiterstadt und Proletariat, Katholizität gegen Protestantismus, Kirchtürme gegen Fabrikschornsteine. Einzig in der Zerstörung beider Städte im vergangenen Weltkrieg schienen sie einander nähergekommen zu sein, was Werners Vater freilich bestritt. Bomben auf Würzburg wertete er als Kriegsverbrechen, Bomben auf Schweinfurt nicht. Wären ja blöde gewesen, die Herren Alliierten, sich die deutsche Kugellagerindustrie nicht vom Hals zu schaffen.

    Werners Bahnfahrt damals von Andernach nach Schweinfurt hatte einem Hindernisrennen geglichen. Zweimal musste die Lokomotive ausgetauscht werden, einmal auf einem Bahnhof, einmal auf freier Strecke, weswegen die Züge Verspätungen wie eine Walze vor sich herschoben, die auf eingleisigen Strecken zu neuen Verspätungen führte. Werner war die meiste Zeit am Fenster gestanden, hatte, bis andere Passagiere protestiert hatten, die Scheibe heruntergezogen und hatte die Landschaft an sich vorbeireißen lassen. Sie konnte nicht schnell genug an ihm vorbeifliegen. Zu sitzen und mit den wechselnden Mitfahrern zu plaudern, wäre ihm unerträglich gewesen. Über was hätte er sich mit völlig fremden Menschen austauschen sollen? Über einen Zirkus, der unerwartet in Schweinfurt gestrandet schien. Mit Elisa, der Akrobatin, ihrem Vater Janko, einem Feuerschlucker, der auch Messerwerfer ist, einem Stallburschen, einem Zeltmacher, eineinhalb Clowns, einem Elefanten, einem Zebra, einer Herde dressierter Ziegen? – Schon lange vor der Einfahrt in Schweinfurt hatte Werner sein Bündel ergriffen und sich an die Abteiltür gestellt. Abspringen … man müsste abspringen können.

    Vom Bahnhof führten die Straßen zwischen eher tristen Gebäuden hindurch. Erst in der Innenstadt gewann die Stadt Gestalt. Auf dem Marktplatz saß einer, in Bronze gegossen, den Werner von der Schule her noch kannte. Er hatte seine Verse auswendig lernen müssen von einem Bäumlein, das gerne andere Blätter hätte haben wollen. An Rückerts Denkmal fragte Werner einen Straßenkehrer nach dem Zirkus und wurde losgeschickt. Beim Willy-Sachs-Stadion, da in der Nähe gastiere gerade ein Zirkus, wenn überhaupt. Solche Gastspiele hielten sich hier nicht lange. Und dann ergriff dieser Mann wieder seinen Reisigbesen und fegte um das Denkmal die dürren Blätter weg, die offenbar Rückerts Bäumlein in seiner Not, andere Blätter haben zu wollen, dort abgeworfen hatte.


    Werner traf nach dem Willy-Sachs-Stadion auf die ausgedehnte Fläche des Volksfestplatzes, auf der, an den Rand gedrückt, ein weißrotes Zelt stand inmitten einiger Zirkuswagen. Einer der Zirkusmenschen führte davor einen Esel im Kreis herum, ein anderer bastelte an einem Absperrgitter, das das Kartenhäuschen schützen sollte. Jetzt konnte … jetzt musste sich alles entscheiden! Jetzt zog sich in Werner ein gewaltiger Wille zusammen … gebrochen durch eine gewaltige Schwäche, die seine Schritte unsicher und zögerlich machten. Der Bastler schaute auf von seinem Absperrgitter, blickte Werner entgegen und zog ihn so an sich heran. Werner schluckte den Speichel, der sich in seinem Mund gesammelt hatte, dann stieß er trocken heraus: Ich suche Elisa.

    Oh! Der Bastler ließ ein interessiertes Misstrauen erkennen. Er kratzte sich, wiegte seinen Kopf und sagte: Eine Elisa gibt es hier schon lange nicht mehr. Aber …, sagte Werner. Er wurde von dem Mann mit einer schnellen Geste zurechtgewiesen, mit der er hinüberdeutete zum Zelteingang, aus dem der alte Janko gerade mit einem angeleinten schwarzen Schäferhund heraustrat. Wie gesagt, mein Herr, eine Elisa gibt es hier nicht mehr. Und es ist besser, nicht nach ihr zu fragen. Der alte Janko da und sein Hund können ganz schön bissig werden, wenn man ihnen zu nahe kommt. Dann zog er seine Augen eng zusammen und machte sich wieder an seine Arbeit.

    Damals, auf dem Schweinfurter Volksfestplatz, war sie riesengroß aufgetaucht, diese entsetzliche Leere, von der Werner soeben unter einem Jahrhunderte alten Bildstock einen Flügelschlag verspürt hatte. Eine bittere … zugleich ungerechte Empfindung! Galt sie doch ganz wieder Elisa und nicht auch seiner Frau, die er vor zwei Jahren erst zu Grabe getragen hatte. Mit Elisa aber war ihm damals eine Sehnsucht ins Leben gesprungen, so gewaltig, dass man sie hätte totschlagen müssen, damit sie nicht mehr existiert. – Werner räumte die Bank und machte sich auf den Weg nach Würzburg zurück.
    Fortsetzung folgt.

    Schweinfurt, Gutermannpromenade, Disharmonie, SAG, Schweinfurt Autoren Gruppe, Gala, Liebe und andere Irrtürmer, Hans Peter Zwißler, Lesung,
    Schweinfurt, Gutermannpromenade, Disharmonie, SAG, Schweinfurt Autoren Gruppe, Gala, Liebe und andere Irrtürmer, Hans Peter Zwißler, Lesung, Foto: Josef Lamber

    Hanns Peter Zwißler, Jahrgang 1946, ist im Allgäu aufgewachsen und studierte in Würzburg Geschichte, Germanistik und Politik. Von 1975 bis 2008 war er Lehrer am Celtis-Gymnasium Schweinfurt, zuletzt als stellvertretender Schulleiter. 1998 erschien sein erster Roman „Der Bröll“. Bei Königshausen & Neumann sind vier weitere Romane und der Erzählband „Blitzeis“ erschienen, zuletzt 2018 der Roman „Rigolettos Hut“. Zwißler ist Mitbegründer und Sprecher der Schweinfurter Autorengruppe SAG und Mitglied im Literarischen Forum Oberschwaben, das von Martin Walser mitbegründet wurde. Er gehört der Gruppe liTrio und dem Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) an. Mehr zum Autor: www.hannspeterzwissler.de

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