Das Meisterwerk hängt nicht etwa in einem der großen Museen dieser Republik. Es befindet sich in der 700-Seelen-Gemeinde Stuppach, in einer denkmalgeschützten Seitenkapelle der Kirche Mariä Krönung. Wer von Bad Mergentheim kommend Richtung Schwäbisch Hall fährt, findet die Kirche rechter Hand nahezu unauffällig in den Hang gebaut.
Die Experten des Landesamts für Denkmalpflege Esslingen haben sich um das fast 500 Jahre alte Gemälde der Muttergottes gekümmert. Übermalungen und aus heutiger Sicht unsachgemäße Retuschen wurden entfernt, alter Firnis abgenommen. Insgesamt 480 000 Euro kostete die umfangreiche Restaurierung. Den Schockeffekt, den die Renovierung der Michelangelo-Fresken in der Sixtinischen Kapelle vor 20 Jahren bei manchem Kunstfreund auslöste, wird es bei der Grünewald-Madonna nicht geben, so Andreas Menrad, Leiter des Fachgebiets Restaurierung beim Landesamt. Allenfalls etwas heller wirke das Bild jetzt.
Grundsätzlich, so Wolfgang Urban, wollte man nicht weiter zurückgehen als bis zur letzten großen Restaurierung Ende der 1920er Jahre, denn: Retuschen und Übermalungen gehörten „zur Geschichte des Werks“, sagt der Diözesankonservator. Beschädigte Flächen fanden sich in der Himmelsszene – Christus als Weltenrichter ließ sich nicht mehr so rekonstruieren, wie mutmaßlich von Meister Grünewald gemalt – und auch im Kirchengebäude, das den rechten Bildhintergrund einnimmt. Matthias Grünewald nahm für die gotische Fassade das Südquerhaus des Straßburger Münsters als Vorbild.
Für Wolfgang Urban hat die Mischtechnik auf Nadelholz nicht nur außergewöhnliche kunsthistorische Bedeutung. Er findet auch Theologie hinter der Oberfläche. Matthias Grünewald malte das 1,86 mal 1,50 Meter große Bild im Jahr 1516, unmittelbar nach dem „Isenheimer Altar“ (heute in Colmar zu sehen). Eine sich über 1000 Jahre erstreckende Entfaltung des Marienbilds finde hier ihre Vollendung, sagt Urban. Das auffällig blasse Gesicht der Stuppacher Muttergottes bezeichnet der Rottenburger Diözesankonservator als „mondhell“: Der leuchtend blonde Lockenkopf des Jesusknaben strahle auf Maria ab wie die Sonne auf den Erdtrabanten – „wie der Mond so schön“, heißt es im Hohelied Salomos, das der gebildete Maler sicherlich kannte. Laut Andreas Menrad war das Gesicht der Madonna ursprünglich allerdings nicht so hell. Frühere Reinigungsarbeiten hätten Schattierungen reduziert. Das Gesicht war wohl stärker modelliert, als es heute den Anschein hat.
Um das Gemälde für die Zukunft zu erhalten, wurde in der Kapelle moderne Klimatechnik installiert, die Luftfeuchtigkeit und Temperaturschwankungen minimiert. Spezialpanzerglas schützt das Bild, dessen Wert im zweistelligen Millionenbereich liegt.
Die Geschichte der „Stuppacher Madonna“ ist ähnlich rätselhaft wie die ihres Schöpfers. Ursprünglich war das Gemälde Mittelteil des Flügelbildes der Aschaffenburger Stiftskirche. Später – wann genau ist nicht mehr rekonstruierbar – kam das Werk nach Mergentheim, wo der Deutsche Orden seinen Sitz hatte. 1812 wurde der Ritterorden im Zuge der Säkularisation enteignet, und der Stuppacher Pfarrer Johann Balthasar Sebastian Blumhofer kaufte das Bild – er hielt es für ein Werk von Rubens. Seitdem ist es die Attraktion in dem Dorf, das heute ein Ortsteil von Bad Mergentheim ist.
Grünewald, für Wolfgang Urban „einer der wichtigsten Maler aller Zeiten“, wurde 1475 geboren, mutmaßlich in Würzburg. Mancher Kunstgeschichtler hält ihn auch für identisch mit Mathis Gothart-Nithart – dann wäre er bei Aschaffenburg auf die Welt gekommen. Um 1530 starb er in Halle an der Saale. Trotz intensiver Forschung liegt seine Biografie weithin im Dunklen. Als gesichert gilt, dass er zeitweise als Baumeister und Maler am Hof des Mainzer Erzbischofs wirkte. Erhalten sind von Grünewald rund 60 Werke, darunter 40 Skizzen und Zeichnungen.
Zu seinen Hauptwerken zählen der Isenheimer Altar, die Stuppacher Madonna und die Seitentafeln des Frankfurter Heller-Altars. Die naturalistische Darstellung des gekreuzigten Christus für den Isenheimer Altar beeinflusste zahlreiche Künstler.
Eine Besichtigung der „Stuppacher Madonna“ ist – abgesehen von den Gottesdienstzeiten – ganzjährig täglich von 8.30 Uhr bis 18.30 Uhr möglich.