Als Herta Müller 2009 den Literaturnobelpreis bekam, fasste sie in einer Tischrede ihr Leben in einem unvergesslichen Satz zusammen. „Der Bogen von einem Kind, das Kühe hütet im Tal, bis hierher ins Stadthaus von Stockholm ist bizarr. Ich stehe (wie so oft) auch hier neben mir selbst.“
Diesen bizarren Bogen zeichnet die rumäniendeutsche Schriftstellerin in ihrem neuen Buch nach. Unter dem poetischen Titel „Mein Vaterland war ein Apfelkern“ lässt sich die 61-jährige, in Berlin lebende Autorin von der österreichischen Lektorin Angelika Klammer (53) offen und genau über ihr Leben befragen.
Herta-Müller-Fans werden auf den 232 Seiten keine großen Überraschungen entdecken. Es geht um die Themen, mit denen sich die Schriftstellerin schon in ihrem ganzen literarischen und essayistischen Werk auseinandersetzt – die düstere Kindheit in einer deutschsprachigen Enklave in Rumänien, die Verfolgung durch den rumänischen Geheimdienst Securitate und den keineswegs nur befreienden Wechsel 1987 in den Westen.
Doppeltes Reflektieren
Und doch gewinnen diese Erinnerungen durch das Gespräch, durch das gemeinsame und doppelte Reflektieren eine besondere Tiefe. „Ich sag mir ja nicht, ich denk jetzt mal über die Vergangenheit nach. Die Vergangenheit ist in die Gegenwart geschnürt und dadurch ist sie in der jetzigen Zeit“, merkt Müller an. Türöffner für die gemeinsame Arbeit war ein Gespräch, das Klammer Anfang 2009 mit der Autorin führte. Nach einer Bedenkzeit ließ sich Müller später auch von dem größeren Projekt überzeugen.
„Wir haben beide mit sehr großer Konzentration daran gearbeitet und dann versucht, das wie in einem Reißverschluss zusammenzubringen“, erzählte Klammer. „Meine Hoffnung ist, dass ich begleitend einen Weg zu ihrem Werk öffnen kann.“ Berührend wird in dem Buch deutlich, wie sehr die kalte, herzlose Kindheit Herta Müller ohne jeden Schutz ins Leben entlässt. Ihre Mutter ist eine vom russischen Arbeitslager gebrochene, gewalttätige Frau, der Vater diente bei der Waffen-SS. Die Nähe zu einer regimekritischen Gruppe deutschsprachiger Autoren trägt der Übersetzerin in der Ceausescu-Diktatur bald die gnadenlose Verfolgung durch den Geheimdienst ein. „Ich brauchte jeden Tag dringend die Schönheit der Sätze, aber ich schrieb, um einen Halt zu finden gegen das Elend des Lebens und nicht, weil ich Literatur machen wollte“, gesteht sie.
Selbst der Halt durch engste Vertraute erweist sich als brüchig. Sie ertappt ihre einstige Freundin Jenny, als diese bei einem Besuch im Westen für rumänische Auftraggeber einen Nachschlüssel zu ihrer Wohnung machen lässt. Und von ihrem Freund Oskar Pastior, dessen Schicksal sie in der „Atemschaukel“ verarbeitet, wird erst posthum die geheim gehaltene Mitarbeit für die Securitate bekannt. Seinen Titel hat das Buch von einem Reim, den sich die Autorin bei ihren Wegen zum Verhör manchmal vorsagte. „Mein Vaterland ist ein Apfelkern, man irrt umher zwischen Sichel und Stern.“
Herta Müller: Mein Vaterland war ein Apfelkern (Hanser, 240 Seiten, 19,90 Euro)