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Meiningen: "Im Herzen der Gewalt": Wie es dazu kommen konnte

Meiningen

"Im Herzen der Gewalt": Wie es dazu kommen konnte

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    Wie im Fluge wechseln sie die Rollen und die Zeitebenen: Anja Lenßen, Sven Zinkan und Emil Schwarz in "Im Herzen der Gewalt"
    Wie im Fluge wechseln sie die Rollen und die Zeitebenen: Anja Lenßen, Sven Zinkan und Emil Schwarz in "Im Herzen der Gewalt" Foto: Marie Liebig

    Großes Staunen - wie schon lange nicht mehr in diesem Theater. Welch fantastische Möglichkeiten es doch gibt, eine Geschichte schlüssig und flüssig zu erzählen! Fernab konventioneller Dialogformen wie "A sagt. B sagt. C sagt.". In den Meininger Kammerspielen hatte "Im Herzen der Gewalt" Premiere, nach dem Roman von Édouard Louis.

    Es geht um die Liebesnacht zweier schwuler junger Männer, die mit einer Vergewaltigung und einem Mordversuch endet – eine wahre Begebenheit aus dem Leben des Autors. Anika Paulina Stauch hat eine Bühnenfassung des Romans des jungen Franzosen (in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel) geschrieben und das Stück selbst inszeniert. Es ist das Regiedebüt der 28-jährigen gebürtigen Kronacherin.

    Warum das Stück fesselnd ist

    Die Erwartung des Kritikers nach dem Motto "Noch ein Stück, das jetzt schnell auf die Bühne muss, bevor es in der Schublade verschwindet" verflüchtigt sich bereits nach den ersten Spielminuten. Selten, dass der Schreiber dieser Zeilen von einer Geschichte – oder besser: von ihrer Präsentation – so gefesselt war wie von dieser. Zur Präsentation gehören auch Marie Liebigs zarte Videoprojektionen im abstrakten Bühnenbild von Christian Rinke – einer zickzackförmige Anordnung leerer weißer Bilderrahmen, zwischen denen die Geschichte lebendig wird.

    Es braucht ein bisschen Zeit, bis man die unkonventionelle Erzählform in Gleichklang mit der eigenen Anschauung bringt. Die Schauspieler Anja Lenßen, Sven Zinkan und Emil Schwarz wechseln wie im Flug die Rollen und die Zeitebenen. Trotzdem hat man nicht das Gefühl, den Faden zu verlieren.

    Drei Darsteller schlüpfen in fünf Charaktere

    Im Gegenteil. Durch den ständigen Perspektiv- und Interpretationswechsel wird einem die Vielschichtigkeit des Geschehenen erst bewusst. Die Darsteller schlüpfen in fünf Charaktere: in die eines Erzählers, des Opfers Édouard, seiner Schwester Clara, des Täters Reda und eines Polizisten. Dabei changieren sie zwischen der Gegenwart, der Tatnacht und der Familiengeschichte von Opfer und Täter.

    Im Zentrum des Erzählens steht das Einkreisen des Ereignisses und die Frage, wie es dazu kommen konnte. Die Tragödie begann an Heiligabend, als sich Édouard der junge Reda, dessen Vorfahren dem nordafrikanischen Hirtenvolk der Kabylen angehörten, freundlich, aber nachdrücklich näherte. Schließlich kam es zu Zärtlichkeiten in Édouards Wohnung, die urplötzlich in Aggression seitens Redas umschlug.

    Und dann unverhohlener Rassismus bei der Polizei

    Als Édouard, noch unter Schock stehend, den Vorfall auf dem nächsten Polizeirevier meldete, spürte er, wie ihn der unverhohlene Rassismus der Polizisten infiltrierte und verunsicherte. Was von dem, was im Protokoll stand, entsprach noch der Wirklichkeit des Ereignisses? Was in der Erinnerung war noch wahrhaftig? Wie komplex sind die Wahrheiten hinter dem Geschehenen? Wie korrigieren die Sichten von Édouards Schwester und die des Täters das Bild der Geschichte? Und schließlich: Was hinterlassen Angst und Wut in der Psyche des Opfers?

    Der von Anika Paulina Stauch gewählte Erzählweg fordert den Bühnenkünstlern sekundengenaue Aufmerksamkeit ab, ein ständiges Abgleichen mit den Worten und Gesten der Mitspieler. Dass ihnen das gelingt, ohne dabei den Fluss des umgangssprachlichen, glaubwürdigen Redens zu behindern, ist einfach nur bewundernswert.

    Am Ende wird man nicht mit einer einfachen Wahrheit beglückt. Vielmehr öffnen sich die Augen für die Geschichten hinter der Geschichte und für die Macht, mit der Hass, Angst, Trauer und rassistische Vorurteile die Weltbilder prägen.

    Nächste Vorstellungen in der kommenden Spielzeit. Details: Telefon (0 36 93) 451-222 oder www.staatstheater-meiningen.de

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