Grüner Körper, roter Kopf, gelb-grüne leuchtende große Augen, lila Fühler: Die kleine Raupe Nimmersatt ist bekannt wie ein bunter Hund. Weltweit ist das Bilderbuch von Eric Carle in 45 Sprachen erschienen, rund 29 Millionen Mütter und Väter, Omas und Opas, Tanten und Onkel und viele andere Raupen-Freunde haben es für ihre Kleinen gekauft. Allein in Deutschland waren es fünf Millionen.
Es ist das Werk eines spätberufenen Bilderbuchkünstlers. Eric Carle wurde 1929 in Syracuse im US-Bundesstaat New York als Sohn deutscher Einwanderer geboren. Als er sechs Jahre alt war, zog die Familie zurück nach Stuttgart, wo er seine Schulzeit verbrachte und 1946 bis 1950 an der Akademie der bildenden Künste studierte. Seit 1952 lebt er wieder in den USA. Er arbeitete als Grafiker und Illustrator. 1967, mit 38 Jahren, illustrierte Eric Carle erstmals ein Kinderbuch: „Brauner Bär, wen siehst denn du?“ Das veränderte sein Leben. Ein Jahr später erschien sein erstes Bilderbuch, bei dem er auch den Text schrieb: „1, 2, 3 ein Zug zum Zoo“. 1969 schuf Eric Carle „Die kleine Raupe Nimmersatt“ – Durchbruch und Beginn seiner Karriere.
Obwohl er seither über 70 Bücher in seiner typischen Collagetechnik bebilderte (Carle bemalt Seidenpapiere und schneidet daraus seine Figuren) und bei den meisten auch den Text verfasste, ist das Raupen-Buch sein populärstes Werk. Warum das so ist, weiß er selbst nicht so genau, aber „ich nehme an, die meisten Kinder können sich mit der hilflosen, kleinen, unbedeutenden Raupe identifizieren, und sie freuen sich darüber, wenn sich die Raupe in einen wunderschönen Schmetterling verwandelt“, sagte er in einem Interview mit dem Gerstenberg-Verlag, bei dem hierzulande seine Werke erscheinen. Für Eric Carle steckt in dieser Metamorphose eine Hoffnungsbotschaft für Kinder: Auch ich kann groß, erwachsen werden, kann meine Flügel, meine Talente ausbreiten und in die Welt fliegen.
Für die kleine Raupe, die ein Schmetterling werden möchte, bedeutet das fressen, fressen, fressen. Am Montag steht ein Apfel auf der Speisekarte, am Dienstag folgen zwei Birnen, am Mittwoch drei Pflaumen, am Donnerstag vier Erdbeeren, am Freitag fünf Apfelsinen. Am Samstag führt die Völlerei zu Bauchschmerzen. Welche Raupe verträgt schon Schokoladenkuchen, Wurst, Käse, saure Gurken, Lolli, Früchtebrot und noch viel mehr? Am nächsten Tag gibt es nur ein Blatt. Die Fresserei hat ein Ende. Die Raupe verwandelt sich. Dafür hat sie sich nicht nur durch Obst und andere Dinge gefressen, sondern buchstäblich durch die Löcher in den Buchseiten.
Aufbau und Aufmachung wecken die kindliche Neugierde. Eric Carles Texte sind einfach, die Sätze kurz. Seine Dramaturgie hat ein Ordnungsschema – die Reihung. Im Raupen-Buch sind es Wochentage und Zahlen. Und immer gibt es einen Höhepunkt, eine Überraschung. Hier der wunderschöne Schmetterling, der sich aus Ei und Larve entwickelt. Spielerische Elemente sind verkürzte Buchseiten und ausgestanzte Löcher. Zu ihrem 40. Geburtstag frisst sich die Raupe sogar durch neue Dimensionen: Den Kinderbuchklassiker gibt es jetzt auch als Pop-up-Ausgabe (Gerstenberg, 19,90 Euro).
Bücher, die unterhalten und durch die Kinder ein klein wenig lernen, das ist die Intention Eric Carles. Gerade deshalb gehören sie, und vor allem die kleine Raupe Nimmersatt, zur Grundausstattung in vielen Kinderzimmern, Kindergärten und Grund- schulen. In Carles Werke fließen Erfahrungen aus seiner Kindheit ein. Tiere spielen in seinen Büchern eine große Rolle, besonders die kleinen: neben Raupen sind das Glühwürmchen, Enten, Käfer, Spinnen, Grillen, Bienen oder Seepferdchen. Die Liebe zu Natur hat sein Vater in ihm geweckt. Der Büroangestellte, der selbst gerne Künstler geworden wäre, nahm seinen kleinen Sohn so oft es ging mit auf lange Sparziergänge durch Wald und Wiese. Er drehte Steine um und zeigte dem kleinen Eric, welch kleine Geschöpfe darunter lebten. Damals wollte Eric Carle Förster werden.
Er war zehn Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann. Als der Vater acht Jahre später aus Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, war sein Sohn bereits Kunststudent. Aber er hat die gemeinsamen Erkundungsgänge mit seinem Vater nicht vergessen. „Ich denke, indem ich in meinen Büchern über kleine Geschöpfe schreibe, ehre ich auch ihn. Und in gewisser Weise beschwöre ich diese glückliche Zeit wieder herauf.“
Eric Carles Bücher sind nicht ohne Grund für Kinder, die den Übergang von ihrem Zuhause in die Schule bewältigen müssen. Das war für ihn selbst ein schwieriger Schritt – der Wechsel von den USA nach Deutschland, von seiner glücklichen, sonnigen Vorschulzeit zum schrecklichen und schmerzhaften Schulbeginn in Deutschland. Carle erinnert sich an einen dunklen Raum, an einen grausamen Lehrer, der ihn mit einem dünnen und harten Bambusstock schlug. Nie konnte er das verzeihen: „Sogar heute noch spüre ich den körperlichen und emotionalen Schock, wie ihn einst der kleine unschuldige Sechsjährige erlebt hat.“ Mit seinen Büchern möchte er allen Kindern den Weg zum Erwachsenwerden erleichtern – wer kennt sie nicht, die kleine Raupe Nimmersatt?