Barbara Gockel hat einen knallbunten Kunstwerkraum im kinderreichen Kiez des Prenzlauer Bergs in Berlin. Die Kunsttherapeutin bietet freies Malen und Gestalten für Kinder an, die an einer Wand stehen und drauflosmalen, für jede Farbe gibt es einen eigenen Pinsel. „Jedes Kind trägt eine innere Spur in sich“, sagt die Therapeutin, „das merkt man daran, an welche Farbtöpfe sie gehen.“
Bald wird Barbara Gockel auch Erwachsenen helfen, ihre innere Spur zu finden. Sie könnte, wie schon am Malort 28 in Karlsruhe und anderswo, Menschen aller Generationen dazu bringen, Malwände zu beklecksen. Das ist es, was viele heute wohl dringend brauchen: den Alltag abschalten, sich aus dem Terminkarussell pinseln, mit Pink, Rot, Kobaltblau oder Giftgrün gegen den Zwang zur Selbstoptimierung angehen, Stress reduzieren und in einen eigenen Flow hinübergleiten, der einzig mit Zufriedenheit verbunden ist. Sinnfrei klecksen.
Doch vor dem Kunstwerkraum steht das Mandala. Interessant für solche, die sich die Kursteilnahme nicht leisten können oder wollen oder nicht mit anderen zusammen Pinsel schwingen möchten, sondern allein am Esstisch. Das Mandala ist ein Symbol aus dem indischen Kulturkreis, das als runde oder geometrische Form Heilkraft ausüben soll. Im Sanskrit, der alten indischen Hochsprache, wird Mandala als der „Kreis, um dessen Zentrum sich alles dreht“, bezeichnet.
Gehetzte Zeitgenossen
Mandala-Bücher sind Ausmalbücher. Sie sind relativ günstig zu erwerben und scheinbar für Erwachsene langweilig, weshalb sie bisher Kindern vorbehalten blieben. Inzwischen stapeln sich in Buchhandlungen die Ausmalbücher neben der Literatur und dem Sachbuch. Mit Johanna Basfords 1,4 Millionen Mal verkauftem Ausmalbuch „Mein verzauberter Garten“ hat der Trend auch Deutschland erreicht. Die Schottin, 31, hat es in den USA und Frankreich in die Bestsellerlisten gebracht. Ihren fulminanten Erfolg erklärt sie mit dem Wunsch immer mehr sich gehetzt fühlender Zeitgenossen zur „Selbstvergessenheit“ und der Sehnsucht nach „kontemplativen Momenten“.
Eltern und Großeltern gestanden ihr, dass sie sich, nachdem die Kinder schliefen, über ihre Ausmalbücher hergemacht hätten. Und die Generation, die permanent tippt, klickt und wischt, legt das Smartphone weg und vervollständigt kritzelnd Tierkörper mit Rüsseln, Riesenohren, Schwänzen oder Flossen.
Inzwischen ist Basfords Nachfolgeband „Mein phantastischer Ozean“ erschienen. Darin ist die ganze Fischwelt, sind unterseeische Pflanzen und Objekte zu bekrakeln. Die Buchbranche hat sich schnell an den Trend angehängt. Um das schnöde Ausmalen kulturell zu erhöhen, preisen es die Vermarkter mit Sprüchen wie „Entspannung durch meditatives Malen“ oder „Entspannungs-Geheimtipp für Manager“ an. Dabei handelt es sich um kein kreatives Handeln, das neue Aspekte erschließen soll.
Verwunschene Parks
Die Ausmalbücher sind mit Blumen oder mit Blättern garniert, zeigen neben Mandalas auch verwunschene Parks, Märchenschlösser, „Star Wars“-Motive und drahtige Figuren von Filmstars. Den Männern kann man mit Bunt- oder Filzstiften zum Beispiel ein kantiges Kinn oder eine ekelbraune Nase verpassen, Frauen einen Damenbart oder rote Ohren.
In der angelsächsischen Welt wundern sich Psychologen darüber, dass sich von Wales über Amerikas Ostküste bis nach Neuseeland Gruppen von Menschen jedweden Alters zu „Coloring Parties“ verabreden. Adrian Greenwood vom Londoner Verlag 0?Mara Books erklärte, dass man mit dem Nachdrucken kaum nachkäme. „In 20 Jahren Verlagswesen habe ich so etwas noch nicht gesehen“, sagte er.
Sein Verlag bietet derzeit 28 Titel an, verkauft werden sie unter dem Motto „Art Therapy“. „Anti-Stress-Bilder“ zum Kolorieren laufen angeblich am besten. Kulturuntergangsdenkern ist das ein Gräuel, schon gibt es den Vorwurf der Infantilisierung. Erwachsene kaufen Bücher, nicht um sie zu lesen, sondern darin zu malen! Wo ist die Selbstbestätigung, wo der Gewinn, etwas geschafft zu haben? Nirgendwo. Vielleicht gerade deshalb gibt es die Ausmal-Manie. Weil sie leistungsdruckfrei ist.
Tipp: Johanna Basford: Mein phantastischer Ozean (S. Fischer, 96 Seiten, 12 Euro)