Er behauptete, Old Shatterhand zu sein und Kara Ben Nemsi und auch, all die Abenteuer seiner „Reiseerzählungen“ tatsächlich erlebt zu haben. Karl May ist eine der schillerndsten Gestalten der Literaturgeschichte. Am 30. März 1912 starb der selbst ernannte Blutsbruder des edlen Apatschenhäuptlings Winnetou. 1913 wurde der Karl-May-Verlag gegründet, der seitdem das Riesenwerk des Sachsen verwaltet. Mitgründer war Euchar Albrecht Schmid, ein gebürtiger Gemündener. Die Familie führt bis heute den in Bamberg und Radebeul ansässigen Verlag. Bernhard Schmid (50) ist seit 2007 Geschäftsführer.
Frage: Bei Ihrer Familiengeschichte haben Sie als Kind sicherlich Karl May gelesen.
Bernhard Schmid: Ja, gerne sogar. Das tue ich heute noch. Ich bin – zum Glück, sag' ich immer – wirklich Karl-May-Fan.
Wie hat sich Ihr Blick als Leser auf Karl May im Lauf der Jahre verändert?
Schmid: Karl May hat sehr viele Facetten. Karl May ist nicht gleich Karl May. Neben den bekannten Winnetou- und Orient-Geschichten hat er auch vieles andere geschrieben. Manches sollte man sogar erst als Erwachsener lesen, etwa das symbolistische Spätwerk. Wir empfehlen für Jugendliche zum Einstieg immer gerne „Unter Geiern“ oder „Der Schatz im Silbersee“, relativ einfach geschrieben, weil es Karl May speziell für die Jugend verfasst hat.
Ich habe als Junge lieber die Geschichten gelesen, die – anders als „Unter Geiern“ und „Der Schatz im Silbersee“ – in Ich-Form aus der Perspektive von Kara Ben Nemsi oder Old Shatterhand geschrieben sind, so wie „Winnetou I“. Vielleicht, weil ich mich da besser als Held fühlen konnte.
Schmid: Das Problem ist, dass „Winnetou I“ relativ langatmig beginnt. Es ist zwar ein schönes Buch, aber man muss erst etwa 150 Seiten lesen, bevor es mit Spannung und Action losgeht. Wir befürchten, dass es eine große Dunkelziffer an Lesern gibt, die „Winnetou I“ begonnen haben zu lesen und wieder weglegten, weil sie es langatmig fanden. Für einen Zehn- bis Zwölfjährigen passiert am Anfang einfach zu wenig. Beim „Schatz im Silbersee“ geht es nach wenigen Seiten schon richtig zur Sache.
Es ist heute nicht mehr selbstverständlich, dass junge Menschen Karl May lesen.
Schmid: Leider nicht.
Woran liegt das?
Schmid: Schwer zu sagen. Im Moment haben wir eine Fantasy-Welle. Vielleicht liegt es auch daran, dass Karl May im Buchhandel weniger angeboten und deshalb weniger als Geschenk verkauft wird – der erste Karl May wird traditionell verschenkt. Aber zum Glück stellen wir auch fest, dass es immer noch Chancen gibt, Jugendliche für Karl May zu begeistern. Zum einen sind die gerade genannten Bände, und auch „Winnetou I“, nach wie vor führend bei den Verkaufszahlen. Zweitens hatten wir 2010/2011 einen Schreibwettbewerb durchgeführt, bei dem Kinder zwischen zehn und 15 Jahren eine Winnetou-Geschichte verfassen sollten. Es kamen über 550 Einsendungen! Ich habe mir sagen lassen, das sei eine sehr gute Beteiligung und es zeigt, dass sich Kinder durchaus für das Thema Karl May interessieren. Auch gibt es viele Schriftsteller, die sich zu Karl May bekennen. Wolfgang Hohlbein etwa hat geschrieben: „Mit Karl May hab ich das Schreiben gelernt.“ Tanja Kinkel, die Bestseller-Autorin hier aus Bamberg, steht voll und ganz zu Karl May. Elke Heidenreich, Cornelia Funke – die mit „Tintenherz“ bekannt wurde – Martin Walser, Paul Maar: alles Karl-May-Fans.
Heldenhafte Abenteuer in fernen Ländern müssten eigentlich zeitloser Lesestoff sein.
Schmid: Das Phänomen Karl May ist schwer zu erklären. Ich habe in der letzten Zeit Presseordner aus den 50er und 60er Jahren durchgesehen. Schon damals wurde immer wieder behauptet, Karl May sei out. Kein Mensch wolle ihn mehr lesen. Damals hatte Karl May eine Auflage von 25 Millionen. Heute sind wir bei 100 Millionen! Karl May wurde immer wieder totgesagt und trotzdem haben seine Bücher immer wieder neue Leser gefunden. Ich glaube aber, dass sich heute eher das Leseverhalten der Zehn- bis Zwölfjährigen verändert hat und der Computer beziehungsweise das Internet die Hauptkonkurrenz sind.
Wie sieht Ihr Lesepublikum aus?
Schmid: Wir sprechen von drei Karl-May-Lesealtern, was sich immer wieder bestätigt. Den Anfang macht die Jugend, das zweite Karl-May-Alter liegt so um die 40, weil ihn da viele wiederentdecken, und drittens finden viele im Rentenalter noch einmal zu Karl May, da sie dann Zeit und Muße zum Lesen haben.
In der Literaturwissenschaft hatte – früher zumindest – Karl May nicht den besten Ruf. Hat sich da was geändert?
Schmid: Da hat sich sogar viel geändert. Zum Beispiel gibt es immer mehr Seminare an Universitäten zu Karl May. Die literarische Karl-May-Gesellschaft ist sehr aktiv und auch in unserem Verlagsprogramm finden Sie eine ganze Reihe an wissenschaftlichen Publikationen. Damit wird ihm der Platz eingeräumt, den er schon immer verdient gehabt hätte, allein schon wegen der Tatsache, dass er der meistgelesene Schriftsteller ist.
Das heißt: der meistgelesene deutschsprachige Schriftsteller?
Schmid: Ja. Ich sage diesen Superlativ mit allerbestem Gewissen: Er ist der meistgelesene Schriftsteller deutscher Sprache! Von den schon erwähnten 100 Millionen Auflage sind über 80 Millionen allein bei uns nachweisbar. Es wird sogar geschätzt, dass weltweit noch einmal 100 Millionen dazukommen. May wurde in 42 Sprachen übersetzt.
Dass ein Autor in Ich-Form schreibt, ist üblich. Dass er behauptet, mit seinen Figuren identisch zu sein, dürfte einmalig sein.
Schmid: Er hatte schon einen ganz besonderen Lebensweg mit vielen Schwierigkeiten und Enttäuschungen. So hat er sich gern in eine Traumwelt geflüchtet und mit seinen perfekten Helden identifiziert. Sehr gut nachzulesen übrigens in unserer Biografie „Winnetous Blutsbruder“ oder gar in der fünfbändigen „Karl-May-Chronik“.
Der Karl-May-Verlag ist ein Sonderfall. Sie sind praktisch komplett auf einen Schriftsteller fixiert.
Schmid: Mit allen Vor- und Nachteilen. Als kleiner Verlag im Konzert der großen bestehen und sich im Buchhandel behaupten zu können, ist schwer, und heute haben Sie es viel mit großen Buchhandelsketten zu tun.
Da sind die Bände nicht mehr so präsent wie früher.
Schmid: Das ist das Problem Nummer eins. Karl May findet – durch den 100. Todestag – derzeit praktisch überall statt. Am wenigsten jedoch im Buchhandel. Unsere große Konkurrenz ist das Gebrauchtbuch, das bei eBay oder wo auch immer gekauft wird, auch, weil der Buchhandel Karl May einfach nicht anbietet. Das ist ein Vorwurf, den ich unseren Partnern machen muss. Mindestens eine kleine Auswahl gehört in jede gute Buchhandlung. Man kann den meistgelesenen Schriftsteller nicht weglassen. Und: Er verkauft sich ja auch, das Interesse ist da: In diesem Jahr haben wir über 180 Veranstaltungen zu Karl May! Das reicht vom Liederabend über den Vortrag bis zu großen Ausstellungen und Symposien, natürlich gibt es auch dieses Jahr wieder Karl-May-Festspiele. Auch daran sieht man: Karl May lebt!
Karl May in Stichworten
Karl May mit seinen Alter Egos Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi. Geburtstag: 25. Februar 1842. Das Geburtshaus steht im sächsischen Ernstthal.
Kindheit: Eltern sind der Weber Heinrich May und seine Frau Christiane Wilhelmine. Karl May hat 13 Geschwister, davon starben neun sehr früh. Bittere Armut prägt die Kindheit.
Ausbildung: Volksschullehrer, 1863 Entzug der Lehrbefugnis; May wurde des Diebstahls beschuldigt.
Tätigkeit: Redakteur, später freier Schriftsteller
Haft: Mehrere Haftstrafen wegen Diebstahls, Betrugs und Prellerei
Prozesse: Über 50 Prozesse als Kläger, Beklagter oder Zeuge
Veröffentlichungen: etwa 80 Werke, darunter 33 Bände „Gesammelte Reiseerzählungen“ von 1892 bis 1910
Familie: Zweimal verheiratet, kinderlos
Fernreisen: Orient (1899/1900), USA (1908)
Letzte Wohnstätte: „Villa Shatterhand“ in Radebeul bei Dresden, heute Karl-May-Museum Todestag: 30. März 1912. May starb im Alter von 70 Jahren in Radebeul
ONLINE-TIPP
Wissen Sie jetzt alles über Karl May? Testen Sie es – mit unserem Quiz: www.mainpost.de