Anja Kling wurde noch in der DDR für den Film entdeckt. In dem zweiteiligen Stasi-Drama „Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen“ am 6. und 7. Oktober auf Sat.1 wird die 38-jährige Potsdamerin, deren Schwester Gerit (42) ebenfalls Schauspielerin ist, mit ihrer Ost-Vergangenheit konfrontiert.
Frage: In „Wir sind das Volk“ träumen Sie als DDR-Bürgerin Katja Schell von einem freien Leben im Westen, landen nach gescheitertem Fluchtversuch aber im Stasi-Gefängnis. Sie selbst sind fünf Tage vor dem Mauerfall in den Westen geflohen. Muss es immer etwas Autobiografisches geben, damit Sie ein Filmstoff reizt?
Anja Kling: Nein, natürlich nicht! In dem Fall aber war für mich sofort klar: Ich will diese Rolle spielen. Die Story hat mich sehr berührt, aber nicht so, dass ich Angst hatte, am Set in Tränen auszubrechen, weil es zu tief rein geht. Außerdem hat mir beim Lesen des Drehbuchs gefallen, wie gut die Geschichte recherchiert war. Nach dem Casting wusste ich auch, dass ich mit Regisseur Thomas Berger würde sehr gut arbeiten können. Damit waren für mich alle wichtigen Voraussetzungen erfüllt.
Haben Sie durch die Rolle auch etwas Neues über die DDR erfahren?
Kling: Die Katja ist zwar frei erfunden, dennoch habe ich durch die Rolle auch viel Neues gelernt. Der Bereich hinter den Mauern von Hohenschönhausen war Sperrgebiet. Ich wusste nicht, dass sich dahinter ein Stasi-Gefängnis befand, in dem Menschen seelisch gefoltert werden. In den Obst- und Gemüsewagen, die hinter die Mauern fuhren, saßen Gefangene. Das war auch im Nachhinein eine bittere Erkenntnis.
Für die Szenen im Stasi-Knast stand ihnen Matthias Melster zur Seite. Er saß fünf Monate in Berlin-Hohenschönhausen und wurde 1988 von der Bundesrepublik freigekauft. War das der schwerste Teil des Films?
Kling: Ich habe mich nicht nur mit ihm zusammen vorbereitet, auf meinen Wunsch ist Matthias auch bei allen Gefängnisszenen dabei gewesen. Seine Erzählungen waren sehr erschütternd. Ich habe ihn durchgehend gefragt, ob alles authentisch ist. Andernfalls haben wir die jeweilige Szene entweder gestrichen oder entsprechend verändert. Die Szenen, die wir teils in der echten Gummizelle gedreht haben, waren für mich sehr befremdlich und schrecklich. In solch einer Zelle hält man es nicht länger als drei Minuten aus.
Während die SED in Ost-Berlin den 40. Jahrestag der DDR-Gründung feiert, geht die Volkspolizei brutal gegen Demonstranten vor. Das sind vielleicht die schockierendsten Momente des Films. Haben Sie dergleichen erlebt?
Kling: Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie brutal die Polizei vorgegangen ist. Ich war mit Leuten von der Staatsoper auf einer Demo. Plötzlich wurden Wasserwerfer von allen Seiten eingesetzt. Wir sind nur noch gerannt. Ich habe auch erlebt, wie viele Leute auf LKW verladen wurden. Das, was sie am nächsten Morgen berichtet haben, entspricht genau dem, was im Film zu sehen ist.
Der Film zeigt auch auf, welchen Einfluss die Westmedien auf die Revolution in der DDR hatten. Angeblich haben sie den Zerfall des Systems beschleunigt.
Kling: Als die Grenze aufging, war ich erst 19. Mein Vater aber hat sein Berufsleben in der DDR absolviert. Er hat sich den Film angeschaut und war tief beeindruckt, wie authentisch er ist. Mutige Widerständler aus dem Osten haben mit Leuten aus dem Westen viel erreicht. Ich selbst hatte allerdings keinen Kontakt zu Oppositionellen. Nichtsdestotrotz war auch ich ein politischer Mensch, der sich plötzlich in der Gethsemanekirche wieder fand. Dem konnte man sich einfach nicht entziehen.
Sie haben in Ost-Berlin an der Ballett-Schule studiert. Waren Künstler und Intellektuelle in der DDR Einzelkämpfer?
Kling: Nein. Aber sie hatten einzigartige Möglichkeiten. Gerade in dieser Zeit hat ein Mann wie Ulrich Mühe mit seinen mutigen Reden unheimlich viel bewirken können. Vermutlich hat man davon im Westfernsehen mehr mitbekommen als auf DDR 1 und DDR 2. Zu diesen Künstlerkreisen gehörte ich als kleine Ballett-Elevin aber nicht.
Warum sind Sie kurz vor der Maueröffnung noch geflüchtet? Hatten Sie bis zuletzt nicht an eine Wende geglaubt?
Kling: Nein. Fünf Tage nach der Maueröffnung befand ich mich in einem Auffanglager in Wackersdorf und konnte die Maueröffnung wie alle anderen nicht fassen. Viele sagen heute zu mir, man hätte zu dem Zeitpunkt doch ahnen können, dass die Grenzen aufgemacht werden. Das ist ein Irrtum. Wir haben damals eher vermutet, dass die DDR-Regierung alles noch verschärfen und die Grenzen ganz dicht machen wird, so dass man nicht mal mehr in die Tschechoslowakei reisen kann. Aus unserer Sicht war es wahrscheinlicher, überhaupt nicht mehr aus diesem Land raus zu kommen, als dass die Mauer fällt. Insofern haben wir den Strohhalm gegriffen und ganz schnell versucht, uns zu retten.
Laut einer neuen Studie sind Berliner Jugendliche wesentlich schlechter über die DDR informiert als Altersgenossen in Nordrhein-Westfalen oder Bayern.
Kling: Dass bestimmte Menschen das Thema DDR meiden, glaube ich wohl. Die müssen jetzt alle diesen Film gucken (lacht). Es ist aber auch schwer zu erklären, was die DDR war. Selbst wenn mein achtjähriger Sohn mich fragt, wo die Mauer genau verlaufen ist, wüsste ich nicht sofort eine Antwort, weil sich seitdem alles verändert hat.
Die DDR-Ideologie versprach, dass die Gesellschaft irgendwann einen Zustand der Glückseligkeit erreicht. Heute mangelt es dem Kapitalismus an sozialer Gerechtigkeit. Hätte eine Neuauflage des DDR-Experiments von Gerechtigkeit und Sozialismus eine Chance?
Kling: Die kommunistische Idee ist im Prinzip schön. Aber der Mensch ist nicht geeignet, sie zu leben, weil er nicht für die Masse denkt, sondern in erster Linie für sich. Es sind einfach nicht alle Menschen gleich. Damit funktioniert der Kommunismus schon im Ansatz nicht.
Der Oscar-gekrönte Film „Das Leben der Anderen“ zeigt einen Stasioffizier, der sich vom Saulus zum Paulus wandelt. Ist das glaubwürdig?
Kling: Auch so was war in der DDR möglich. IM war nicht gleich IM. Es gab sicher schlimme Finger, die Menschen ans Messer geliefert haben. Aber viele sind auch zur Spitzeltätigkeit gezwungen worden. Gerade über ihre Kinder, denen zum Beispiel ein Studium versprochen wurde, hat man viele Leute rumgekriegt. Nicht jeder IM hat seinen Nachbarn angeschwärzt. Es gab auch welche, die nur positive Berichte geschrieben haben. Man kann nicht alle in einen Topf werfen. Jeder sollte deshalb seine Akte ganz genau angucken.
Haben Sie Ihre Akte eingesehen?
Kling: Ich war zu jung. Ich hatte nur ein Blatt, auf dem stand, was ich gemacht beziehungsweise nicht gemacht habe. Das war keine wirkliche Akte. Offensichtlich gab es in meinem Umfeld gar keinen IM.
War die Stasi bei Ihnen zu Hause gar kein Thema?
Kling: Doch. Ich war schon vorsichtig, denn ich habe ja nicht gewusst, ob jemand aus meinen Reihen Spitzel ist. Im Nachhinein hat sich Gott sei Dank herausgestellt, dass es niemanden gab. Bei meinen Eltern aber schon. Über sie wurden richtige Akten angelegt von Leuten, von denen man das nicht gedacht hätte.
Wie haben sich 19 Jahre DDR auf Ihr Leben ausgewirkt?
Kling: Die Erfahrung DDR gehört zu mir dazu. Mein bisheriges Leben besteht aus 19 Jahren DDR und 19 Jahren Bundesrepublik. Natürlich ist die zweite Hälfte meines Lebens freier. Trotzdem würde ich mein früheres Leben nicht missen wollen. Im Grunde genommen bin ich sogar froh, in der DDR groß geworden zu sein, weil heute die Dinge für mich nicht selbstverständlich sind. Ich kann mich jeden Tag über Kleinigkeiten freuen, die jemand, der im Westen aufgewachsen ist, vielleicht eher als selbstverständlich sieht.
Zur Person
Anja Kling Geboren am 22. März 1970 in Potsdam, wurde sie 1988 für den Film entdeckt. Nach dem Abitur nahm sie Schauspielunterricht. Kling bewies ihre Vielseitigkeit in zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen, unter anderem in „(T)Raumschiff Surprise – Periode 1“, „Die Affäre Semmeling“ und „Küss mich, Genosse“. Sie lebt in Potsdam und hat mit ihrem Lebensgefährten zwei Kinder.