Warum läuft die Tochter dem Vater freiwillig ins Messer? Etwa, weil – wie es so schön sinnbildlich am Ende von Lessings Trauerspiel "Emilia Galotti" heißt – eine Rose lieber gebrochen werden will, ehe sie der Sturm entblättert? Mit Fragen wie dieser entlässt die Maßbacher Interpretation des Werkes in Regie von Ingo Pfeiffer das Publikum in die laue Sommernacht.
"Emilia", möchte man der jungen Frau kurz vor dem schlimmen Ende zurufen, "Emilia, warum lässt du dich von solchen Männlein, die sich für die Welt halten, so unter Druck setzen, dass dir der Tod als eine bessere Lösung erscheint als das Leben?" Welch Anmaßung, egal, ob sie von gutmütigen, bösartigen oder zweifelhaften Charakteren geäußert wird! Gut, man könnte sich die Frage selbst beantworten. Wir sind ja nicht im Hier und Jetzt, sondern im 18. Jahrhundert. Der Aufklärer Lessing führt uns mitten in einen Konflikt zwischen feudaler Tyrannenwillkür und aufstrebendem Bürgerstolz, der so längst nicht mehr existiert.
Emilia gerät in die Fänge des Prinzen
Selbstherrlicher Prinz (Jens Eulenberger) begehrt über alle Maßen Emilia (Maßbachdebütantin Nina Niknafs), nachdem ihm seine Mätresse (Anna Schindlbeck) gleichgültig geworden ist. Emilia jedoch liebt einen jungen Grafen (Maßbachdebütant Alessandro Scheuerer). Beide wollen just an dem Tag, der alles verändert, heiraten. Der zynische Kammerherr (Christoph Schulenberger) arrangiert einen Überfall auf die Hochzeitskutsche. Der Graf stirbt, Emilia gerät in die Fänge des Prinzen. Emilias Mutter (Jessica Latein) ist untröstlich, Emilias Vater (Marc Marchand) schockiert und in seinem patriarchischen Ehrgefühl als Bürger und Familienoberhaupt zutiefst verletzt.
Wer die Geschichte (deren Motiv auf den römischen Historiker Livius zurückgeht) in der feudalen Zeit belässt, kann eigentlich beruhigt nach Hause gehen. Man könnte sagen: Ein spannender Psychothriller aus dem 18. Jahrhundert, in durchweg verständlicher Umgangssprache der Zeit, ohne deklamatorische Passagen. Die Charaktere in ihrer Zerrissenheit oder in ihrem Zynismus werden überraschend lebendig. Dafür sorgen besonders Jens Eulenberger als von seinen Begierden beherrschter, wankelmütiger Prinz, Christoph Schulenberger als zynischer und skrupelloser Kammerherr und Anna Schindlbeck als vom Leben und Lieben enttäuschte Mätresse, wütend, aber auch ungemein klarsichtig und vehement in ihrem Blick auf höfische Tyrannei und Menschenverachtung ("Wie kann ein Mann ein Ding lieben, das auch noch denkt!").
Gelungene Inszenierung mit Gänsehaut-Effekt
Man könnte sich auch daran erfreuen, wie sich die Figuren in historischen Gewändern (Kostüme: Daniela Zepper) in den genial einfachen Kulissen von Robert Pflanz verhalten. Sie bewegen sich auf und über und um beliebig verschiebbare grüne, güldene, schwarze und rotsamtige Polster, aus denen sich flugs die gute Stube der Galottis bauen lässt, ein intimes Gemach oder der Eingang des Lustschlosses des Prinzen. Gleichzeitig versinnbildlichen die Matratzenelemente – manchmal durchaus zur Erheiterung des Publikums – auf welch schwankendem Boden sich die menschliche Tragödie ereignet.
Man könnte also gut unterhalten nach Hause gehen, wenn, ja wenn da nicht diese Unruhe in einem rumorte, dass männliche Begierde, Selbstüberschätzung, Anmaßung, Machtdemonstration und Übergriffigkeit heute noch in der Welt sind, genauso wie die zu Ideologien geronnenen Gefühlszustände von Scham, Schande und Ehre. Dass einem also trotz des historischen Gewandes der Tragödie mulmig zumute wird – und zwar ganz gegenwärtig -, das ist der kleine, durchaus beabsichtigte Nebeneffekt dieser gelungenen Inszenierung.
Noch neun Vorstellungen in der Lauertalhalle bis 29. August. Infos und Karten: Telefon 09735-235. www.theater-massbach.de