Wer heute, bevorzugt in Italien, durch die engen Gassen eines historischen Stadtkerns schlendert, blickt begeistert an den Mauern empor, die seinen Weg säumen, staunt über schmale, spitzbogige Fenster, folgt spannenden schmalen Durchlässen, schlüpft in Arkaden, fühlt sich mitten im Mittelalter – und findet's romantisch. Romantik bedeutet, Dinge in rosigem Licht zu sehen. Aber die Wirklichkeit ist nur in ausgesuchten Momenten rosig.
Denn zur Zeit ihrer Entstehung sind die engen Gässchen brandgefährlich, und das im Wortsinn: Feuer können sich in Windeseile ausbreiten und ganze Stadtteile in Schutt und Asche legen. Die Menschen wohnen dicht an dicht: In Mailand drängen sich Ende des 15. Jahrhunderts 150 000 Einwohner auf kleinster Fläche. Dazwischen Haustiere. Und Ratten.
Die stockige Luft der engen Durchgänge in der mittelalterlichen Stadt, Schmutz und Unrat auf den Wegen, bieten besten Nährboden für allerlei Krankheiten – und auch für die schlimmste Seuche jener Zeit: die Pest. Niemand weiß damals wirklich, wie und warum der „Schwarze Tod“ sich seine zahllosen Opfer holt. Vom Bakterium Yersinia pestis ahnt keiner etwas. Man sieht, hilflos, nur die Folgen. In Mailand fällt in den Jahren 1484 und 1485 ein Drittel der Bevölkerung der Seuche zum Opfer. 50 000 Männer, Frauen und Kinder.
Schmutz und Gestank in den Gassen
Leonardo da Vinci (1452 bis 1519) kommt 1482 aus Florenz in die Metropole Mailand. Gerade mal 30 Jahre alt, umgibt ihn schon die Aura des genialen Künstlers und Forschers. Auch er weiß nichts von Yersinia pestis, natürlich: Das gefährliche Bakterium wird erst 1894 von Alexandre Émile Jean Yersin entdeckt werden. Doch Leonardo ahnt immerhin einen Zusammenhang zwischen der Seuche und dem Schmutz und Gestank der engen, übervölkerten Gassen.
Leonardo ist anders als seine Zeitgenossen. Auch im alltäglichen Verhalten. Er achtet, damals durchaus ungewöhnlich, auf seine gepflegte Erscheinung und auf Sauberkeit. Mit Hilfe von Booten organisiert er die erste Müllabfuhr in Mailand und trägt so zu einer wesentlichen Verbesserung der Lebensqualität in der Stadt bei. Und er legt seinem Herrscher, dem Fürsten Ludovico Sforza, die Idee zu einer idealen Stadt vor. Seine Pläne sollen Schmutz und Gestank durch eine spezielle Anordnung der Häuser, Straßen und Plätze beseitigen.
Leonardo plant eine Stadt auf mehreren Ebenen, wie Zeichnungen in den noch erhaltenen Notizen des Universalgelehrten zeigen. An doppelstöckigen Straßen stehen Häuser mit zwei übereinander liegenden Eingängen. Raum sparende Wendeltreppen verbinden die Ebenen. „Im Tiefgeschoss sollten die Wege für die Lasten und die Dienstboten verlaufen. Diese Unterwelt wollte Leonardo mit überdachten Karrenwegen und Kanälen erschließen, hier sollten auch die Abwässer fließen“, beschreibt der Wissenschaftsautor Stefan Klein in „Da Vincis Vermächtnis“ (Fischer-Taschenbuch) die Vorstellungen von der „Citta ideale“.
Darüber sollten sich die Fußgängerboulevards erstrecken. Dort ergingen sich „in seiner Vision die Bürger von Lärm und Gestank unbehelligt zwischen Arkaden und Gärten“, so Klein. Ein Modell, gebaut nach Leonardos Skizzen, macht in der Nürnberger Ausstellung „Da Vinci – das Genie“ (siehe Kasten unten) die Vorstellungen greifbar.
Der Tod der Romantik
Leonardo da Vinci trennt Frischwasser und Abwasser. In der ihm eigenen Schreibweise von rechts unten nach links oben notiert der Linkshänder in sein Tagebuch: „Der mittlere, unterirdische Hauptkanal nimmt kein trübes Wasser auf, sondern Wasser, welches durch die Gräben außerhalb der Stadt fließt, mit vier Mühlen am Eingang und vier am Ausgang. Dies macht man, indem das Wasser oberhalb von Romoloutino staut.“ Er hatte bei seinen Plänen offenbar die konkrete Geografie vor Augen. Die „ideale Stadt“ ist mehr als das Gedankenspiel eines künstlerisch-kreativen Geistes. Der Mann, der die „Mona Lisa“ und „Das Abendmahl“ malen wird, will wohl tatsächlich Mailand umbauen.
Viel frische Luft, viel helles Licht: Wäre es nach Leonardo gegangen, wäre es mit engen, winkligen Gässchen schon am Ausgang des Mittelalters vorbei gewesen. Doch die Pläne werden nie in aller Konsequenz verwirklicht. Nur einzelne architektonische und konstruktive Elemente werden gebaut. Bei der Mailänder Kirche San Marco findet sich noch heute Reste einer Schleuse, die Ludovico 1497 errichten ließ, als Teil eines Kanalsystems, das vielleicht auf Pläne des Genies aus dem toskanischen Dorf Vinci zurückging. Jedenfalls gibt es von dessen Hand Skizzen, die der Wirklichkeit sehr ähneln.
Hätte sich Leonardo durchgesetzt, hätte das für den modernen Italien-Touristen vielfach den Tod der Romantik bedeutet. Für die von Seuchen geplagten Menschen jener alten Zeit dagegen – das Leben.
Ausstellung in Nürnberg
„Da Vinci – Das Genie“ präsentiert 75 eigens angefertigte Geräte und Maschinen in Originalgröße, die zum großen Teil ausprobiert werden können. Zu sehen sind etwa Nachbauten von Flug- und Kriegsgeräten und andere Apparate. Insgesamt werden über 200 Objekte in einer Halle auf dem ehemaligen Nürnberger Quellegelände (Fürther Straße 205, direkt neben dem Frankenschnellweg) gezeigt. Zu sehen sind auch Reproduktionen der anatomischen Studien da Vincis sowie Faksimiles seiner wichtigsten Gemälde und Zeichnungen.
Der „Mona Lisa“ ist eine eigene Abteilung gewidmet. Mit hochmoderner Multispektralanalyse wird versucht, die Geheimnisse von Leonardos berühmtem Bild zu entschlüsseln.
Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10– 18 Uhr (Pfingstmontag geöffnet). Bis 10. August.